Ich bin von Beruf “Mädchen für Alles” und man beschreibt das hierzulande gerne damit, daß ich viele verschiedene Hüte aufhabe. Für mich waren diese Hüte immer spitz zulaufend, wie die von Hexen oder Feen im Märchenbuch; manche sogar mit Glitter und Schleierchen. Als ein Amerikaner neulich sein vergleichbares Aufgabengebiet beschrieb und dabei gestisch seine imaginären Kopfbedeckung wechselte, waren das Mützen (heißen hier auch “hat”) und sie hatten alle Schirme. Da sieht man mal wieder, welche Folgen unterschiedliche Sozialisation hat.
Worauf wollte ich gleich noch mal hinaus? Genau! Ich habe schon wieder einen neuen Titel, seit heute nachmittag bin ich “Floor Warden”. Das ist hierarchisch ganz knapp unterhalb von Tafelwart* angesiedelt und circa drei Stufen über Erbsenzähler. Ein Warden ist ein Aufseher oder Wärter, zum Beispiel im Knast; Aufgabe eines Stockwerkswärters ist jedoch nicht, wie man annehmen könnte, darauf aufzupassen, daß keines wegkommt – man stelle sich das nur mal in den alten Aufzügen in Kaufhäusern vor: “1. Stock – Herrenoberbekleidung, 2. Stock – Damenoberbekleidung, 3. Stock – Spielwaren, 4. Stock – Alles für… nein, Moment, der 4. Stock ist uns abhanden gekommen, da hat der Floor Warden nicht aufgepaßt, 5. Stock – Damenwäsche und -schuhe”… Wo war ich?
Ich sollte besser keine Negation mehr verwenden, das lenkt wieder nur ab. Also, brauchen tut man einen Stockwerkswärter nur im Notfall. Im äußersten Notfall, dann wenn ein Gebäude evakuiert werden muß. Dann ist der Floor Warden Teil der “Incident Command Structure” und dafür zuständig, daß alle Anwesenden das Stockwerk geordnet verlassen, bzw. auf seinem Klemmbrett (!) zu notieren, wer’s nicht geschafft hat, und das den Profis von Katastrophenschutz und Feuerwehr wg. “search & rescue” zu melden.
Weil man ja alleine nicht wissen kann, wie das geht (Alarm klingelt – “Alle raus! Jetzt! Sofort! Go! Go! Go!”), bestellte die Gebäudeverwaltung unseres Bürokomplexes jeweils mindestens zwei Repräsentanten jedes Mieterunternehmens zur verpflichtenden Schulung ein. Und weil die von der Verwaltung auch nicht wissen, wie’s geht (Alarm klingelt – “Alle raus! Jetzt! Sofort! Go! Go! Go!”), unterrichtet ein “Emergency Expert”. An wen erinnert mich diese Frau bloß? Dieser Typ? Dürr, drahtig, diszipliniert, Modell Skinny Latte und Fat Free Yogurt? Ich komme einfach nicht drauf und grüble immer noch, als sie, Notfall vorgebend, Richtung Tür rennen antäuscht und dann wg. nicht böse gemeint ein paar Aufwärmspäßle macht. An wen bloß? Ca. 30 Mietermitarbeiter sind anwesend und sollen nun Kennenlernspiele machen. “Frage jemanden, den du nie zuvor gesehen hast, nach seinem Namen und seinem Lieblingsessen” und dann verzweifelt die Trainerin an ihrer Katastrophenklasse, weil keiner öffentlich “sharen” will. “Ihr seid alle so ruhig. Heißt das, daß ihr nachdenkt? Oder was verarbeitet?” Sind wir hier bei den Anonymen Alkoholikern oder was? Wo habe ich das schon einmal gesehen? Diese Hilflosigkeit angesichts der grausamen Welt? Jetzad! Ich weiß es: die sieht aus wie Sissy Spacek.
Nun kann ich mich auch wieder auf Inhalte konzentrieren. Worum gehts? Was sollen wir hier? Erst mal lernen, daß der Feueralarm nicht mehr Feueralarm heißt, sondern ganz allgemein “emergency alert”. Warum das, wollen wir wissen? (Wollen wir nicht, aber das ist Sissy wurscht.) Weil manche Menschen ein Gebäude nicht verlassen, bloß weil der Alarm klingelt. Wenn es nicht nach Rauch riecht, bleiben die seelenruhig sitzen und zünden sich eine Zigarette an. Also doppelte Schurken! Habe sie selbst gesehen. Ich bezweifle den Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Auch wenn Sissy schon 19 Jahre im “Emergency Business” ist – Innenraumraucher gab es schon damals keine mehr. Außer in Vegas vielleicht; das wiederum würde doch so einiges erklären.
Was also ist ein “emergency”? Oh, sagt Sissy, alles! Und beginnt genüßlich aufzuzählen: Unfall in der chemischen Industrie, Bombenwarnung, Feuer, Erdbeben, “suspicious package”, Amokschütze, “unattended luggage”, Gasexplosion… ich kann gar nicht so schnell mitschreiben, wie der Frau die “disasters” von den Lippen perlen. Was tun, wenn was passiert? Kreise malen sollen wir. Einen kleinen, einen größeren drumherum. Der innere steht für einen 100-Meilen-Radius, der außen für 300 Meilen. Da solle man jeweils eine vertrauenswürdige Kontaktperson benennen, vorzugsweise “out of state” die im Not-/Bedarfsfall als Nachrichtenzentrale dient. Die einzige, die ihre Kreise “shared”, hat ihren Onkel in Ohio ausgesucht. Das macht Sissy nicht glücklich – hat niemand wen in einem “exciting place like Los Angeles or New York”? Nein, aber Washington. “Washington is cool.” Himmelherrgottnochmal, wo bin ich hier? Aber Sissy plappert vorne schon weiter. “My husband is trained.” (Mein Mann ist abgerichtet.) und wieviel Spaß es ihr das mache, diesen Satz zu sagen. Auch die Kinder seien “trained”, selbst die Katzen. Übrigens, wenn sie mal in ein Flugzeug einsteige, dann immer nur Notausgangplatz und wer immer neben ihr sitze, werde noch vor dem Abflug gründlich examiniert. Die hätte mir auf einem Langstreckenflug gerade noch gefehlt.
Ich habe mir inzwischen einen Kaffee und einen Keks (10 cm Durchmesser) besorgt und hole mein Mittagessen nach, vorne plappert es munter weiter, da rischelt und raschelt es um mich herum. Offensichtlich hat Sissy unsere Spannung nicht mehr länger ausgehalten und die Gaben auf unseren Plätzen zum Auspacken freigegeben. Aber genau der Größe nach, erst die große Tüte, dann die mittlere und dann die kleine Schachtel. Solchen Anweisungen folge ich höchstens, wenn ich weiß, daß sich Freunde mit einem Geschenk große Mühe gegeben haben. Sissy kann mich mal.
Was haben wir denn da? Eine orangefarbene Sicherheitsweste mit Reflektorstreifen. Und wie die stinkt! Gleich anziehen, bettelt sie, “pretty please with sugar on top.”** Als nächstes bekommen wir eine Krönung amerikanischen Ingenieursschaffens (links) geschenkt: einen Karabiner mit integrierter Trillerpfeife – oh mein Gott, jetzt kriege ich den Michi Mittermaier und seinen Flugzeugabsturzsketch nicht mehr aus dem Hirn – und, jawohl, Damenundherren, es geht noch besser, kaum zu glauben aber wahr, mit ebenfalls integrierter Taschenlampe und made in China. Wow! Bei mir wurmt sich NDW-Markus ins Ohr und so langsam bahnt sich eine Migräne an. Letzte Übung: die Batterie einsetzen, drei Mal an die Decke blinken, einmal blasen. Weil das so schön klappt, bekommt jeder ein Tombola-Los zur Belohnung. Vorne jubiliert es weiter, da sähen wir mal, ohne die richtige Ausrüstung sei doch die schönste Katastrophe nichts. Sie habe ja unter jedem Tisch bei sich zu Hause ein solch unentbehrliches Utensil geklebt, denn wenn sich wg. der alten Erdbebenregel “Duck-Cover-And Hold On” jemand unter einen Tisch verkrochen habe, sei doch nichts leichter, als anschließend die Rettungskräfte herbeizupfeifen. Wie hilfreich wäre sowas etwa damals für ihre Freunde “in the Towers” gewesen? Oder für die beim Boston Marathon? Oder bei jedem fucking*** Erdbeben seit 1989? Keine Katastophe, wo sie nicht irgendwen mitten im Geschehen kannte. Außerdem müsse man als weiblicher Floor Warden möglicherweise auch in der Herrentoilette nach zu Evakuierenden suchen. Und da sei es doch angeraten, vorher zu trillern. Nicht, daß man in eine peinliche Situation gerate. Wo bin ich hier? Langsam beschleicht mich der Verdacht, daß ich zur Mithilfe bei der Therapie zur Bewältigung eines schlimmen Falles von Paranoia shanghait worden bin.
Ich glaube, ich habe recht, denn jetzt üben wir Evakuieren. In echt. Dazu müssen wir alle den Pfeifenkarabiner an den Westen befestigen únd anschließend hektisch durcheinander rennen, bis ans Ende des Ganges und sich dann nach Schuhgrößen geordnet in eine Reihe aufstellen. Jetzt, wo die Westen wegen Körperwärme und viel Flatterbewegung ihre volle olfaktorische Wirkung entfalten, sinkt die Luftqualität auf einen Wert im zweistelligen Minusbereich. Das wird definitv eine ausgewachsene Migräne. Und dann schimpft Sissy auch noch mit uns. Wir waren viel zu langsam. Woran das wohl gelegen haben könnte? “An der Organisation der Reihe?” schlägt eine enthusiastische Teilnehmerin vor. Die war mir eh schon unangenehm aufgefallen, wegen ständigen Pfeifens und Blinkerns beim Durcheinanderlaufen. Frau, ey, ich hab Migrähäne! Geh weg, sei leise, und spiel mit was Giftigem! Das bin aber nur ich. Sissy ist total begeistert und verschenkt schon wieder ein Tombola-Los. Und sie glaubt an uns, und daß wir das besser können – nochmal, und dieses Mal nach Geburtsmonat sortiert aufstellen. Das kann ich. Ich spare mir das Rennen, Pfeifen, Leuchten und stelle mich ganz hinten an die Wand, was mir zwar einen bösen Sissy-Blick einträgt, mir aber die Zeit gibt, Kopfwehtabletten einzuwerfen.
Wir dürfen uns wieder setzen. Sissy erzählt Schnurren aus ihrem Katastrophenhelferleben. Wie sie mal zu einem evakuierungsunwilligen Boß gesagt habe “My job is to save your ass – not to kiss it”**** und nicht gefeuert wurde. Diesen Satz schenke sie uns übrigens zur Weiterverwendung. Yay! Danke, Sissy. Hiermit geschehen. Bei gleichrangigen oder gar untergebenen Kollegen empfehle es sich, damit zu drohen, daß man sie wegen Evakuierungsverweigerung bei der Polizei anzeigen werde. Das wirke immer. Ich muß schon sagen, interessante Straftatbestände haben die hierzulande. Warum wollen eigentlich diese Tabletten einfach nicht wirken?
Wenn es dem Floor Warden durch Drohungen und Beschimpfungen gelungen ist, alle Kollegen aus dem Gebäude zu bewegen, ist seine nächste Aufgabe, sie zu den vorgesehenen Sammelstellen zu führen. Das sind auf unserem “Campus” Parkplätze, “so you gotta park your people”. Durch meinen Brummschädel dröhnt Carlton Heston “Let my People go!”. Ich glaube ja nicht, daß Moses sein Volk erst durchgezählt hat, nachdem er sie in der Wüste geparkt hatte; wir hingegen sollen das so machen, weil ja immer unterwegs noch was passieren könne und dann sei am Ende der “Roll call” verkehrt. Außerdem sei unbedingt darauf zu achten, Verletzte nicht mit den Heilgebliebenen zu vermischen.***** What?
Nun wieder Bewegung. Wir üben in nach Geschlecht getrennten Paaren mit verbundenen Augen (“mehr sieht man nicht, wenn’s qualmt”) uns an der Wand lang aus dem Gebäude zu tasten und wer jetzt glaubt, wir hätten die geplanten zweieinhalb Stunden schon durchgestanden, der hat sich getäuscht. Jetzt kommt nämlich eine der wichtigsten Lektionen: Was tun, wenn’s ein Amokschütze ist? Der Fachbegriff ist “active shooter” und mein armer Schmerzenkopf hat nichts besseres zu tun, als zu überlegen, wie man sich denn wohl einen passiven Schießer vorzustellen habe. Läßt der zum Beispiel eine geladene entsicherte Waffe fallen und kann dann nichts dafür, wenn die jemanden trifft? Oder anders? Und wenn ja, wie? Fragen über Fragen.
Strengere Waffengesetze sind keine Option. Das Second Amendment ist sakrosant. Das wäre ja noch schöner! Da könnte ja jeder kommen und vor allem, wo kämen wir denn da hin?
Erst einmal ein Video zum Thema, “Es ist ein bißchen furchteinflößend. Am besten tief durchatmen und lächeln.” Hier ist das Scary Movie von der Homeland Security. “Active Shooter – Run – Hide – Fight”: http://bit.ly/1pXP4mN. Sissy empfiehlt, durch den Hintereingang auszubrechen, denn der gemeine Amokschütze komme immer durch die Vordertür; “Keiner weiß, warum sie den Haupteingang bevorzugen, it’s just the way it is”. Ah ja. Das ist mal ein guter Tip. Ich glaube, das mache ich jetzt. Jetzt sofort. Im Büro ist bestimmt noch Schmerztablettennachschub. (Zum besseren Verständis: ich habe vor, durch die Hintertür zu retirieren. Nicht herumzuballern. Obwohl ich mich bei diesen Kopfschmerzen bestimmt auf mildernde Umstände herausreden könnte.)
Nohohoh! Immer noch nicht vorbei. Sissy verlost. Der Tombola-Gewinn ist ein “Emergency Kit”, der Gewinner war jedoch klüger als ich und ist bereits gegangen. Jetzt aber! Jetzt ist doch bitte Schluß, oder? Nope. Sissy verschenkt noch was. Grellgrüne Post-it-Blöckchen, mit dem Aufdruck “Evacuated”. Die sind offiziell dafür vorgesehen, sie nach erfolgter Evakuierung an der Bürotür anzubringen, damit die Feuerwehr weiß, daß keiner mehr drin ist. Ich habe mir allerdings vorgenommen, nächste Woche beim “Emergency Drill” die einzelnen Kollegen damit zu verzieren. Nachdem ich sie geparkt habe.
Das wars. Da mußten wir durch: Disaster Preparedness Training in Echtzeit. (Ich weiß nicht, ob ich je zuvor so einen langen blogpost geschrieben habe.)
Nachtrag (aus Sissys Backup-Folien): Was tun, wenn’s brennt bzw. ich in Flammen stehe? “Stop – Drop – And Roll” lernen hier schon die Kleinsten. Als hätte ich nicht schon genug Kopfschmerzen, rollert bei mir sofort die Blechbüchsenarmee aus der Augsburger Puppenkiste durchs Hirn. Schepper, schepper, roll. Jawoll, jawoll!
Immerhin habe ich eine wichtige Lektion gelernt: ich trage schon mehr als genug Hüte und brauche keine neuen mehr!
* Für die die’s gemerkt haben. Stimmt, das ist bei Pratchett abgeguckt.
** “Pretty Please” ist das hiesige Äquivalent zum “schön bitte bitte sagen” und schon bei einem dreijährigen Kind kaum zu ertragen. Bei einer erwachsenen Frau, die dazu ein Schnütchen zieht und in die Hände patscht, ist es unmöglich. Und wo die sich ihren Zucker hinpfeifen kann, muß ich wohl nicht erklären.
*** Das Adjektiv habe ich eingefügt.
**** Ich muß Ihren Arsch retten, nicht küssen!
***** Wörtlich: “We don’t want injured people mixed among the healthy people.”
vielleicht sollten einfach alle mieter des gebäudes zusammenlegen und Sissy als gemeinsamen Blockwart bzw. Drill Sergeant einstellen – dann könntet ihr jede woche spaß mit ihr haben 🙂