Gestern Abend in der Christuskirche am Dom-Pedro-Platz: “Matthäuspassion” (J. S. Bach)

Karfreitagabend, die Kirche gesteckt voll, das noch viel zu helle Licht von außen blendet durch die hohen Fenster. Der Altarraum füllt sich mit Orchester, Chor, Solisten, Dirigent. Langsam kehrt auch im Publikum Ruhe ein. Jetzt. Der Chor setzt mächtig brausend ein.

Es folgt die Leidensgeschichte Christi wie man sie kennt. (Abendmahl, Golgatha, Verrat, Folter, Kreuzigung, Tod.) Großartig vorgetragen. Von allen. Dafür Dank. Dennoch bleiben am Ende einige Irritationen.

Die erste:

  • Was soll das? Da proben 100 Menschen monatelang. Treten ohne Bezahlung auf. Und dann nimmt man ihnen wegen, wegen… ja was eigentlich? sogar noch die Anerkennung für einen dreistündigen brillanten (und einmaligen) Auftritt? Mit allem Respekt – das ist nicht richtig.
  • Und dann ist da der junge schmale Mann im dunkeln Anzug, durch ein Schild am Revers als “Ordnungskraft” ausgewiesen, der mit weit weit ausgebreiteten Armen, einen Ausdruck der Verzweiflung auf dem Antlitz, fast fassungslos hervorgestoßend “Pause ist, wenn der Chor abtritt”, das an sich aussichtlose Ansinnen verfolgt, Menschenmassen, die sich nunmehr seit zweit Stunden den Hintern auf harten Kirchenbänken steif gesessen haben und nach Frischluft gieren, darauf warten lassen zu sollen, bis sich ca. 90 nicht immer jugendlich-dynamisch-sportliche Sängerinnen und Sänger hohe Stufen hinabgequält, und durch ein Nadelöhrseitentürchen in die Sakristei durchgekämpt haben, bevor sie die Kirchentüren nach draußen öffnen dürfen. Hat das nun auch wieder was mit Tanzverbot zu tun?
  • Dass Massenmanipulation einfach immer gleich funktioniert. Ob im Sportpalast zu Berlin oder in einer Bach’schen Passion, wenn Pilatus den Mob fragt, wen er nun begnadigen soll und ein vielstimmiges massiges “Bárábbám”* entgegengebrüllt bekommt. Oh ja, dieser Chor kann bei Bedarf auch brüllen, kreischen, toben. Nur applaudieren darf man ihm dafür nicht. (Ja, das sitzt bei mir tief.)
  • Woher kommt dieses Bedürfnis, sich einen Gott zu erschaffen, der geradezu versessen auf Menschenopfer scheint? (Gerne älteste Söhne.)
  • Wer hat eigentlich die Pontius-Pilatus-Figur als aalglatten geschickten Lokalpolitiker interpretiert? (Dann gilt halt “Volkes Wille”, auch wenn damit ein Mörder frei kommt, wenn es denn dazu dient, dass kein “viel größer Getümmel ward”.) Die Autoren des Matthäus-Evangeliums? Bachs Librettist Picander? Falls das wer weiß, wäre ich für sachdienliche Hinweise dankbar.
  • Woher kommen die Frauenstimmen?** Noch dazu in der Kirchenmusik? Hmmm? Das immerhin hat mir Wikipedia heute früh schon verraten: Für die Besetzung des Ripienochors gibt es eine moderne Aufführungstradition mit Knabenstimmen (als Gegensatz zu den Frauenstimmen in den zwei Chören), die aber in keiner Beziehung zu den ursprünglichen Intentionen Bachs steht, der ohnehin in der Kirche ausschließlich Knabensoprane (beziehungsweise falsettierende Männerstimmen sowohl für Sopran und Alt) einsetzte.
  • Und noch einmal Wikipedia: Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Matthäus-Passion als Bestandteil der kommerziellen Konzerte des städtischen Bürgertums fest etabliert und auch gestern wurde in der Kirche kein Gottesdienst zelebriert, sondern Eintritt für ein Konzert verlangt. Und dann nicht mal klatschen dürfen?

Zusammenfassend: Tolles Konzert. Berührendes Erlebnis. Über drei Stunden Klangsensation. Reichlich Denkanstöße. Eigenartige Veranstalter mit noch eigenartigerem Regelwerk.

* Nicht irritieren lassen. Der heißt weiter “Barabbas”. In den Bach’schen Tagen wurden halt auch Eigennamen noch ordentlich dekliniert.

** “Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt.” (1. Korinther 14:34)
Und singen sei daher dem Weibsvolk doppelt verboten! Nämlich! (Ableitung, 1. flockblog. )

Gelesen: Karen Thompson Walker – “The Dreamers”

Ja. Tja. Schwierig. Ich lasse das Buch mit gemischten Gefühlen hinter mir.

Frage mich, wie sich eine Autorin wohl fühlt, fühlen muss, wenn sie im Januar 2019 ein Buch über eine viral übertragene Krankheit schreibt, die schnell zu dem führt, was wir alle jüngst erst erlebt haben (Quarantäneeinrichtungen, Ganzkörperschutzanzüge, überfordertes Gesundheitwesen, Masken für jedermann und -frau, Unwissen, Unsicherheit, Angst).

Thompson Walkers Virus versetzt Menschen in Tiefschlaf. Sie scheinen zu träumen. Er überträgt sich offensichtlich über die Luft, keiner weiß, wen er als nächsten befällt. Also wird das winzige Universitätsstädtchen in der Nähe von Los Angeles, in dem die Krankheit zuerst ausbricht, eilends von einem “Cordon Sanitaire” umgeben. Nun kann keiner mehr raus und keiner mehr rein. Werden die Infizierten rechtzeitig gefunden, kommen sie, solange es noch Rettungsdienste gibt, schnell in improvisierte Feldlazarette, wenn nicht, sterben sie im Schlaf an Dehydririerung.

Jetzt zeigen sich auch die Schwächen des Buches. Thompson Walker zeichnet einige Figuren deutlich, läßt sie sich entwickeln, hat eine Beziehung zu ihnen und erlaubt das ihrer Leserschaft ebenfalls. Andere bleiben eigenartig flach und es ist und bleibt egal, ob sie wachen oder schlafen, sterben oder leben.

Interessant und spannend hingegen, ist es, sich mit den Fragen zu beschäftigen, die sie aufwirft. Das Leben ein Traum? Viele der Träumenden berichten, nachdem sie wieder erwacht sind, von Träumen, die sich wie eine Vorahnung auf noch zu Geschehendes anfühlten. Andere arbeiten ihre Vergangenheit auf, manche nur eine einzelne Szene, wieder und wieder. Was also ist das, was wir Leben nennen? Was Realität? Davon schreibt sie in einer wunderbaren lyrischen Prosa, in der gelegentlich wuchtige Dampfhammer-Statement-Sätze wie dieser “This is how the sickness travels best: through the same channels as do fondness and friendship and love.” wie dicke Steine in einem sonst munter fließenden Bächlein herumstören.

Wie gesagt, gemischte Gefühle. Das Buch ist nicht richtig sehr gut, aber auch wirklich nicht schlecht. Es wird sich wohl jede*r selbst ein Bild machen müssen.