Gelesen: Margaret Atwood – “The Penelopiad”

Geplant hatte ich diesen LektĂŒreausflug in die griechische Mythologie nicht, aber manchmal ergibt es sich einfach, und dann wird das schon seine Richtigkeit haben.

Atwoods Abrechnung / Interpretation / Neufassung der Odyssee stand schon zu Weihnachten auf meiner Leseliste, aber dann waren der Ablenkungen zu viele und die Ferien zu kurz und deshalb bin ich erst dieses Wochenende dazugekommen, das eher schmale BĂ€ndchen wegzuatmen. Allem voran: wie immer atwoodgroßartig! Nobelpreis, yadda, yadda. Irgendwann muss dieses Komitee doch vor meinen andauernden Anrufungen kapitulieren? Dann: wie immer, klarste Sprache, virtuous eingesetzt, flamboyanter Feminismus, WĂ€rme fĂŒr und Anteilnahme an den Protagonistinnen und Protagonisten – es ist die helle Freude, wie Atwood in die Psyche ihrer Ich-ErzĂ€hlerin Penelope blicken lĂ€ĂŸt.

Wir begleiten eine FĂŒnfzehnjĂ€hrige in ihre arrangierte Ehe und an den fremden Hof in Ithaka, der fĂŒr sie keine Rolle vorsieht, außer Söhne zu gebĂ€ren. Dann aber ist der Hausherr im Krieg und nach Kriegsende auf Irrfahrt und sie hĂ€lt den Laden zusammen und die wie die Geier einfallenden Freier auf Abstand. Mit List und TĂŒcke und unter Einsatz ihres Dutzends selbst herangezogener junge MĂ€gde, die sie prostituiert und als Spioninnen und Agentes provocatrices* einsetzt, kĂ€mpft sie um den Erhalt ihrer bzw. des Odysseus GĂŒter und ihrer Tugend, wĂ€hrend sie gleichzeitig den inzwischen zum Jungmann gereiften (?) widerspenstigen Besserwissersohn Telemachus sowie höfische Intrigen im Zaum hĂ€lt. Alles nicht leicht. Aber sie schafft das. Zu welchem Preis? Odysseus kehrt heim, meuchelt die Freier nieder, hĂ€ngt die MĂ€gde auf (alle zwölf) und ist so lange wieder Chef im Hause, bis ihm fad wird und er zu neuen Abenteuern aufbricht.

Jetzt, wo sie alle tot und in der Unterwelt sind, sucht Penelope nach Antworten. Eine der grausamsten: Die MĂ€gde sind selbst schuld. Warum? HĂ€tte der gastgebende Hausherr sie dem Besuch, wie Mahlzeiten und Nachtquartiere, als “Unterhaltung” zur VerfĂŒgung gestellt, wĂ€re der Sex mit den Freiern, ob in Form einer Vergewaltigung oder freiwilliger Hingabe (so freiwillig, wie die Hingabe einer Sklavin an einen Adeligen halt sein kann) quasi aufgrund des Gastrechts legal gewesen. Da aber der Hausherr irrfahren war und die Gattin als Vertretung nicht zĂ€hlt, wird der Einsatz der jungen Frauen fĂŒr Ithaka als Kollaboration gewertet. Man möchte schreien ob dieser schiefen Logik!

Atwood prĂ€sentiert auch Mythologie gewohnt brillant – allein schon eine Aussage ĂŒber die Form zu treffen, ist eine Herausforderung. Ein Gesang? Biographieprosa mit Gedichteinsprengseln? Ganz was anderes? Sie selbst nennt es “Scrapbook”, eine Art “Sammelalbum”. Trifft es natĂŒrlich am besten.

Weil ein Blick aus dem Fenster mich darin bestĂ€rkt, das Haus ganz sicher nicht verlassen zu wollen, habe ich heute frĂŒh in warme Decken eingerollt auch noch flugs das auf der Penelopiade basierende gleichnamige TheaterstĂŒck (auch aus Atwoods Feder) gelesen. HĂ€tte ich die Theatergruppe einer Oberstufenklasse mit einem hohen Anteil an jungen Frauen zu unterrichten: es wĂ€re das StĂŒck meiner Wahl. Meine Herausforderung an die jungen Menschen wĂŒrde darin bestehen, es erst einmal zu ĂŒbersetzen (und zu verstehen) und dann aufzufĂŒhren.

Alle anderen sind von dem Zusatzaufwand befreit. Aber bitte lesen! Lesen! Lesen!

Und falls jemandem in meiner treuen Leserschaft so ist, als hĂ€tten sie schon einmal Hymnen auf Penelope gehört, dann ist das richtig. Auch die Tölzer Truppe unter Regie der hochverehrten Frau RothmĂŒller hat dem Odysseus schon mal gezeigt, wo Penelope den Most holt. (Siehe unten.)

* Jaha, hab ich selbst gegoogelt: so lautet die weibliche Form des “Agent provocateur”.