Deutschland macht zu. Nachdem es schon seit Wochen keine Live-Kultur mehr geben darf, keinen Museumsbesuch und keine Mahlzeit in einem Restaurant, sind jetzt auch Konsumeinrichtungen dicht. Sowie Kitaschulekindergarten. Es wird uns an nichts fehlen, denn alle “systemrelevanten Einrichtungen” dürfen geöffnet bleiben: Lebensmittelläden, Ärzte, sonstige medizinische Bedarfsdecker, Apotheken, Drogerien, Tankstellen, Autowerkstätten etc. Außerdem Weihnachtsbaumverkäufer. Der eine oder andere Händler geht seitdem in sich und findet in seinem Angebot auf einmal starke Systemrelevanz. Zum Beispiel reklamierte die Parfümeriekette Douglas (der Garantiehotspot am Heiligen Abend) für sich den Drogeriestatus. Wer neben Wässerchen auch Cremes verkauft, dürfe offen haben. Das Ansinnen wurde dann aber nach einem öffentlichen Aufschrei doch verworfen.

Es ist nie so klar geworden wie jetzt, dass sich das Gesellschaftsbild in unserer Gesetzgebung nicht mehr mit der Realität deckt. Auf Unterstützung von Vater Staat hat Anspruch, wer einer Norm entspricht, die schon lange nicht mehr die Mehrheit ausmacht. Zum Beispiel Kurzarbeit: Der abhängig beschäftigte Versorger-Vater an der Werkfront erhält im Not- und Bedarfsfall weiterhin 80% seines Einkommens. Direkt vom Arbeitgeber, direkt über die Lohnabrechnung, direkt aufs Konto. Die Wiederbeschaffung des Geldes von der Arbeitsagentur ist Aufgabe des Arbeitgebers. Das ist gut und einfach geregelt, und eine gute Sache. An der Heimatfront kämpft derweil die gute Ehefrau und Mutter. Sie kümmert sich um die Kinder und deren altersspezifischen Bedürfnisse (ja, auch als Hilfslehrerin) sowie den Haushalt und ist möglichst unbelastet vom Druck eines Vollzeiterwerbslebens. Reproduktionsverweigernden Singles müssen 67% reichen, sie haben zwar mehr in die Kassen einbezahlt, aber auch aus Sicht des Gesetzgebers geringere Ausgaben. So geht Solidargemeinschaft.
Zusammengefaßt: Der Idealbürger steht in einem abhängigen Arbeitsverhältnis und seine Steuern und Sozialabgaben werden direkt und ohne Umwege ab- und den betreffenden Instituionen zugeführt. Außerdem lebt er für immer und ewig in einer überschaubaren mit Brief und Siegel bestätigten Kernfamilie und klassischer Rollenverteilung. Dann klappts auch mit der staatlichen Unterstützung. Wahlweise ist man Großkonzern.
Allen, die in anderen Lebensmodellen leben, werden bürokratische Knüppel zwischen die Beine geworfen. Selber schuld. Warum leben und arbeiten sie auch nicht so, wie es die Sozialgesetzgebung vorsieht? Ja, mir ist auch klar, dass man nicht für jeden Einzelnen immer schon das passende Modell vorhalten kann, aber ein paar einfachere und schnelle Lösungen wären mit gutem Willen möglich gewesen. Deutschland sollte sich für die Nach-Corona-Zeit dringend eine Sozialrechtsreform auf die “Zu-Erledigen”-Liste schreiben. Wenn Militär und Industrie zur Manöverkritik fähig sind, könnten wir es als Staat auch mal versuchen. Es ist möglich, aus Fehlern zu lernen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass das nicht unsere letzte Pandemie gewesen sein wird. (Ich bin Dystopien-Leserin, ich kenne mich aus.)
Ich kann mit dem Lockdown leben, werde mich an die Regeln halten und freue mich auf die Impfung, wenn ich dran sein werde. Trotzdem bin ich mit der Gesamtsituation unzufrieden. Warum? Weil der Umgang mit den beiden Großkampffeiertagen der nahen Zukunft schon vorausgreifend gründlich schiefgelaufen ist.
Das erste war diese dumme Weihnachtsverheißung. Wenn ihr nur recht schön brav seid, ihr Bürger, dann dürft ihr Weihnachten feiern, so, wie ihr das immer tut. Ach was. Es war doch schon Mitte November offensichtlich, dass aus der Weihnachtslockerung nichts werden kann und wird. Und statt diesen Umstand zu kommunzieren, folgte dieses unnötige Elendsgezerre. Was nützen mathematische Modelle, die genau die Entwicklung, die wir jetzt haben, vorhersagen, wenn sich keiner an die heilige Weihnachtskuh seiner Wählerschaft herantraut? (Schiefes Bild, ich weiß. Finde aber auch, dass es was hat…)
Mir kommt dieses Vorgehen vor wie ein Gesellschaftsspiel, bei dem man dem Virus die Ereigniskarte mit “Einmal aussetzen” untergeschoben hat und glaubt, dass es sich daran hält. Weil, das ist ja die Spielregel. Was für ein Schwachsinn! Wenn wir eins gelernt haben sollten, dann, dass dem Virus menschliche Erfindungen wie Grenzen, Uhrzeiten, Lebensalter, Vorschriften jeder Art etc. im Wortsinne totwurscht sind. Wirt ist Wirt.
Zum zweiten nervt mich die Halbherzigkeit, was das Böllerverbot an Silvester betrifft. Es gäbe viele gute Gründe, diesen Unfug sein zu lassen, von Feinstaub über Lärmbelästigung bis Verletzungsgefahr. Aber nein. Es gibt ein Verkaufsverbot, eine Ausgangssperre sowie einen Appell an die Vernunft der Bürger. Super. Ein Freund aus Aachen berichtet von riesigen Trecks über die holländische Grenze, wo inzwischen in den Feuerwerksläden noch nicht einmal mehr ein winziger Knallfrosch zu finden sei. Vernunft. Hah! Steht doch schon bei Brecht, ey. Das Volk ist tümlich und kennt seinen Kant nicht. Wobei ich immer noch überzeugt bin, dass die Regierung ihr Volk unterschätzt. Kein Weihnachten und kein Feuerwerk im Jahr 2020 für die Aussicht, dass die nächsten wieder leichter stattfinden könnten – mit diesem Deal hätten viele leben können. Mit dem Länderfürstengezerre und nicht nachvollziehbaren unterschiedlichen Regelwerken? Eher nicht. Das macht nur bockig.
Nachtrag zum Thema Regeln (nur Bayern, ich hatte nicht die Zeit für sämtliche Bundesländer.) Hier Kassian Strohs Erklärvideo mit Leserfragen zu den aktuell gültigen Vorschriften: http://bit.ly/3ao4mNj und besonders zum nachfolgenden Dilemma (wir erinnern uns: im Frühjahr war grundloses Parkbanksitzen in Bayern streng verboten):
F: Darf ich mir in eine Grünanlage eine Butterbreze mitnehmen und eine Thermoskanne Tee und diese beiden Sachen dort verzehren?
A: Diese Frage ist kniffliger, als sie zunächst klingt. Denn: Gilt das als “Sport und Bewegung an der frischen Luft”? Dann wäre es erlaubt, so lange Sie sich an die Kontaktbeschränkung halten. Im Frühjahr galt in Bayern eine Zeit lang die höchst umstrittene Regel, dass man sich nicht auf einer Parkbank niederlassen dürfe, auch nicht alleine. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Also würde ich sagen, ihre Brotzeit im Freien ist zulässig. Ein Verzehrverbot gibt es nicht, nur ein Alkoholkonsumverbot in der Öffentlichkeit – aber Sie trinken ja Tee. Von dem her spricht ebenfalls nichts dagegen.
Abschließend die quasi Kurzfassung des blogposts in zwei Bildern mit bestem Dank an das gute Kind.

