Ein Mann zum Rehe stehlen

Einer der unbestreitbaren Vorteile des Lebensabschnitts “Zwischen zwei Jobs” ist frei verfügbare Zeit. Zeit, lang Liegengebliebenes endlich zu erledigen, abzuheften, an den rechten Platz zu räumen. Das Ding mit der Versicherung zu klären, und das mit der Steuer. Den Kleiderschrank auszumisten. Schwimmen zu gehen. Und Turnen. Endlich dieses Online-Training zu machen. Außerdem jenes. Und dann noch dies. Und das. Und überhaupt. Es ist darüber hinaus die ideale Phase, um zu prüfen, wie es um die eigene Begabung zur Prokrastination steht. Ich fürchte, ich bin hochbegabt.

Dabei kann ich gar nichts dafür. Es liegt an den Stapeln. Im Wohnzimmer haben sich drei aufgebaut, die längst mehrfach eingestürzt wären, hätte ich nicht jahrelang Tetris geübt. Und auf dem Nachttisch türmen sich noch zwei. Ja, man hat mir gesagt, dass es inzwischen e-books gibt und dass die alle und noch viel mehr auf einem winzigen schmalen Tablett Platz hätten. Aber ich kann so nicht lesen! (Man muß sich das mit dem Handrücken an die Stirn gelegt in dramatisch-hysterischem Regisseusenduktus ausgesprochen vorstellen.) Ich lese analog. Gedruckte Buchstaben von Papier in Hirn. Deswegen Stapel. Wann kommt man denn als berufstätiger Mensch schon dazu, schnell ein paar hundert Seiten wegzulesen? Außer im Urlaub? Genau. Und wenn man es recht besieht, habe ich aktuell eigentlich Urlaub. Also quasi Lesepflicht. (Im Argumente für Buch statt Abzuarbeitendes zu finden ist man als prokrastinierender Bücherwurm mindestens Weltmeister.)

Und nun zum eigentlichen Thema dieses blogposts: ich habe ein Buch gelesen. Lag schon länger ‘rum: Marc Elsberg “Blackout” mit dem dramatischen Untertitel: “Morgen ist es zu spät”. Herr Elsberg hat sehr fleißig recherchiert, was geschieht, wenn in Europa der Strom ausfällt. Dann hat er es aufgeschrieben. Dann wurde sein Manuskript gedruckt. Gelesen oder gar redigiert, lektoriert und editiert hat ganz offensichtlich niemand. Himmelherrgott! Der Mann ist Österreicher und Kreativdirektor für Werbung in Wien. Das bedeutet, man muß das eine oder andere ins Deutsche übersetzen und sehr sehr viel ganz einfach nur in verständlich.

Beispiele gefällig? (Die habe ich gesammelt, weil ich es nur so ausgehalten habe, weiterzulesen und damit ich sie ihm in einem blogpost um die Ohren hauen kann. Alles, was nachfolgend kursiv gedruckt ist, ist wörtlich aus “Blackout” entnommen.)

  • Immer wieder Einsatzhörner von irgendwoher.
    Okay, da muß ich mich korrigieren. Ich kannte bis dato nur Einhörner. Einsatzhörner gibt es wohl tatsächlich und sie machen lalü-lalü.
  • Michelsen wollte jetzt nicht die Rehe scheu machen…
    Das ist einfach: Herr Elsberg mag offensichtlich Bambi lieber als Fury. Ich darf mich an dieser Stelle für die Anregung für den Titel meiner Rezension bedanken.
  • Ein Konvoi aus Militär- und Tankwagen schob sich über den Bildschirm. Manzano mußte an den gleichnamigen Actionfim aus den späten Siebzigerjahren denken.
    Weder ich noch das Internet kennen einen Film mit dem Titel “Ein Konvoi aus Militär- und Tankwagen schob sich über den Bildschirm”.
  • Shannon fragte den Mann, ob er wußte, wo versorgte Gebieten lagen.
    Wie hat man sich ein “unversorgtes Gebiet” vorzustellen? Ist das eines, das keinen Fluß abgekriegt hat?
  • Das Rathaus war ein Stilmix in Gelb, Rot und Glas.
    Diesen Satz lasse ich in seiner Schönheit einfach unkommentiert wirken.
  • Angström betrachtete den Bildschirm: “Ist mir ein spanisches Dorf”, sagte sie.
    Ich finde, ist mehr so böhmischer Bahnhof.

Und so geht das weiter, Seite um Seite. Da gefällt ihm irgendwann der Begriff “Traube” und dann ist jede Menschenmenge auf den nächsten achtzig Seiten eine Traube, bis er sich an den Trauben sattgeschrieben hat. Man verstehe mich nicht miß. Das Thema ist sauspannend und zwingt einen dazu, sich damit auseinandersetzen, wie abhängig wir von Strom sind und wie schnell eine Gesellschaft kippen kann, wenn der wegbleibt. Es gibt einzelne Kapitel, in denen Elsberg aus Studien und den Berichten von Planspielen zitiert. Die sind gut, denn bündig und verständlich zusammenfassen kann er. Ganz besonders, wenn er Sheri Finks Buch “Five Days at Memorial”* als Quelle benutzt. Aber dass man ihm seine kruden Formulierungen durchgehen und die entsetzlichen Längen und das unnötige Geschwafel ohne helfende Hände und Hirne auf die Leser losläßt, ist schon ein ganz besonderes Armutszeugnis für den Blanvalet-Verlag.

Ich bin sehr unschlüssig, ob ich das Buch, das es inzwischen sogar zur Schullektüre gebracht hat, empfehlen soll. Wie gesagt, als Denkanstoß: großartig. Aber ich hab mich beim Lesen so dermaßen ärgern müssen, dass ich nicht weiß, ob ich das anderen zumuten mag.

 

* Sheri Fink: “Five Days at Memorial”. Sheri Finks Reportage über das Memorial Medical Center in New Orleans während und nach Hurrikan Kathrina. Frühchen-, Palliativ-, Krebs-, Dialyse-Stationen ohne Strom… man male es sich aus oder lese das unbedingt lesenswerte Buch.

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