Nach Umwelt- und Nuklearkatastrophen und deren Folgen ist Amerika gespalten. In ein gutes Amerika, in dem der Wertekanon der westlichen Welt (“freedom and democracy”) noch Bedeutung und Gültigkeit hat und in den alttestamentarisch-christlich-fundamentalistischen Staat Gilead.
Gilead ist in Kasten organisiert; es gibt eine relativ kleine herrschende Klasse, die “Commanders of Faith” (Männer, meist im dreiteiligen Anzug mit Gehrock, schwarz). Der männliche Rest teilt sich auf in “Angels” (Soldaten in Uniform, schwarz), “Guardians” (die gesamte Polizei, in permanenter Präsenz, man denke “Glaubenswächter” im Iran, in Uniform in schwarz) und “Economen” (undefiniertes geschecktgrau, die Arbeitsbienen). Ein jeder kann Mitarbeiter der “Eyes”, des allgegenwärtigen Geheimdienstes, sein.
Man muß sich immer wieder bewußt machen, dass Atwood dieses Buch in den 90er Jahren des letzten Jahrtausends angesiedelt hat, und alle diese Frauen aus einem Leben, wie wir es alle kennen und leben, in diese Gesellschaft gerissen wurden. Den Frauen von Gilead, vollkommen gleichgültig, welcher Kaste sie angehören, ist der Zugang zu allem verwehrt. Kein Job, kein Bankkonto, nicht autofahren, nicht lesen, nicht schreiben. Kein Stift, kein Papier. Keine Medien. Keine Musik.
Die Herren von Gilead haben die Bibel nach ihren Bedürfnissen editiert und leiten daraus das Recht ab, Frauen in “legitime” und “illegitime”zu klassifizieren. Zu ersteren zählen selbstverständlich die “Wives”, Ehefrauen der Commander, Herrin ihrer Haushalte (petrolgrün, immer im Kleid, Hosen sind undenkbar). Und die “Handmaids”. Sie tragen rot. Rot. Rot und dazu weiße Flügelhauben. Ihre einzige Aufgabe besteht in der Reproduktion und zwar mit der herrschenden Klasse. Um dieses Ziel zu erreichen, werden sie an den streng überwachten fruchtbaren Tagen einmal im Monat im Beisein des gesamten Haushalts im Rahmen der “Zeremonie” von “ihrem” Commander vergewaltigt. “Ihr” Commander? Richtig. Sobald sie seinem Haus zugeführt werden bekommen sie seinen Namen (Of-Fred) und der ändert sich, wenn sie in den Besitz eines anderen übergehen. Sollten sie schwanger werden, und ist das Neugeborene kein “Shredder”, gilt das Kind als Kind des Commanders und seiner unfruchtbaren Frau und die Handmaid wird spätestens nach der Stillzeit zum Zwecke einer erneuten Befruchtung in den nächsten Haushalt weitergereicht.
“Marthas” sind meist ältere Frauen jenseits der Gebärgrenze, die den Commander-Haushalt führen; kochen, putzen, Wäsche machen etc. Man ist versucht, an Martha Stewart als Rollenvorbild zu denken, die biblische Martha ist aber wohl wahrscheinlicher. Sie tragen taubenblaugrau und ihr Verhältnis zur Handmaid im Haus ist meist ambivalent. “Econowomen” werden fleißigen Economen zugewiesen, wenn fruchtbar, fein, wenn nicht, auch recht. Die sollen arbeiten. Alle Frauen haben den Kopf bedeckt zu tragen. Bis auf die Aunts und die Wives, die die Haare so streng nach hinten gekämmt und in Knoten gezwirbelt haben, dass man schon vom Hinsehen Kopfschmerzen bekommt.
Nun kommen wir zu einer ganz besonderen Gruppe legitimer Frauen, den “Aunts”. Diese Tanten sind zuständig für die Indoktrination, “Ausbildung” und Disziplinierungen der Handmaids und auf den ersten Blick mögen sie wie sadistische KZ-Wärterinnen oder grausame Nonnen erscheinen und sind es auch. Atwood wäre aber nicht Atwood, wenn diese Frauen nicht ebenfalls eine zweite und dritte Ebene hätten.
Illegitime Frauen, auch “Unwomen”, sind die, die einem Regime, in dem Sexualität eine Staatsangelegenheit ist, nicht nützen. Ältere, Lesben, Widerständlerinnen, zu lange unschwangere Handmaids (merke: die Schuld für mangelnde Empfängnis liegt immer bei der Frau!), politische Aktivistinnen, alles, was als “ungileadisch” gesehen werden kann. Man verschifft sie in die “colonies”, wo sie zur Zwangsarbeit gezwungen ohne Schutzkleidung radioaktive Erdschichten abtragen müssen und qualvoll verenden. Die letzte Kaste sind die “Jezebels”, das bestgehütete Geheimnis Gileads. Gutaussehende junge Frauen, die von den herrschenden Männern in geheimen Bordells als Prostituierte benutzt werden.
Erstes Opfer dieses Staates sind die Menschenrechte und, wie immer, wenn ein patriarchalisches System zum Maß aller Dinge wird, Frauen. Verstöße gegen Gileads Gesetze (wie gesagt, die Exegese der selbst passend gemachten Schrift ist ausschließlich in den Händen der kleinen Herrscherklasse) werden gemäß “biblischer Gerechtigkeit” geahndet, Auge um Auge (es gibt erschreckend viele einäugige Frauen), Zungen, Finger und Klitorides abgeschnitten, Körper ausgepeitscht, Psychen in Grund und Boden getrampelt. Das gilt naürlich nur, wenn das Vergehen nicht todesstrafenbewehrt ist. Sollte das der Fall sein, zum Beispiel bei “gender traitors” (LGBT) oder, Gott behüte, Schwangerschaftsabbrüchen, steht ein ganzes Repertoire an institutionalisierten Tötungsritualen zur Verfügung: Steinigen, Erhängen, Ersäufen, Erschlagen, Niederschießen…
Aber der Rachegott straft nicht nur. Nein, die Gerechten belohnt er. Indem er ihnen zum Beispiel ein Weib schenkt. Diese zukünftigen Ehefrauen sind dann schwer indoktrinierte Teenager in weiß, die in Gruppenhochzeiten vollverschleiert dem Auswerwählten anheimgegeben werden und zu deren Aussteuer ein Laken mit einem penisgroßen Loch gehört, denn Lust sollen sie auch in einer Ehe nicht empfinden. Nur dem Manne dienen, fruchtbar sein und sich mehren.
Die große Stärke dieser zweiten Staffel besteht, neben der genialen Bildsprache, darin, dass die Charaktere alle multidimensional sind. Daraus ergeben sich nahezu ständig situative Allianzen. Die auch wieder brechen. Oder gebrochen werden. Diese Figuren sind niemals durchgehend stark oder schwach, gut oder böse, sympathisch oder Ekelpakete. Jede/r versucht einfach nur im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu überleben und vielleicht sogar noch andere zu schützen. Die Autoren haben Atwoods ursprüngliche Geschichte, die mit der 1. Staffel endet, glaubhaft und ihrem Sinne weitergeführt, und nicht nur Frauen, sondern auch den Mitgliedern der LGBT-Gemeinde eine deutliche Stimme gegeben und eine ganz großartige Leistung vollbracht.
Bildsprache hatte ich schon erwähnt. Mache ich aber noch einmal; manche dieser Bilder haben sich so eingeprägt, dass sie in meinen Träumen noch einmal auftauchten.
Von ein paar kleinen Logikfehlern abgesehen – ich meine, selbst ich, der größte Orientierungsdepp seit Christoph Columbus, weiß, dass einem eine Landkarte nachts in einem dunklen (!) Wald nicht wirklich weiterhilft, hätte man es nicht besser machen können.
Anschauen! Anschauen! Anschauen! Anschauen!