Im Nachgang zum Austausch der knirschenden Restknieknochen durch Polyethylen und Metall kam es zu seltsamen Veränderungen der Haut an meinem Unterschenkel. Ich fands nur häßlich, meine Hausärztin hingegen ein wenig besorgniserregend, worauf sie mich zum Dermatologen schickte. Der besah und bedrückte den braunen Fleck, wollte aber eine endgültige Diagnose erst stellen, wenn man in der Hautklinik, wo man über die entsprechenden Gerätschaften verfüge, eine gründlichere Untersuchung vorgenommen habe. Der Besuch in deren Poliklinik war ein ganz besonderes Erlebnis und, wie ich fürchte, ein Ausblick darauf, wie die Medizin der nahen Zukunft aussehen wird.
Termin? Nein, Termine werden nicht vergeben. Der Patient hat zwischen 07:30 und 10:30 Uhr zu erscheinen und dann in den Dialog mit einem Automaten zu treten (Zum ersten Mal hier? Mit oder ohne Überweisung? Kasse oder Privat?), bevor dieser eine Wartenummer ausspuckt. Meine war 32, was mir angesichts der bereits auf dem Monitor aufleuchtenden 14 gar nicht so schlimm schien. War’s auch nicht. Eine knappe Dreiviertelstunde später wurde ich in Raum 3 (von dreien) gerufen und trat in den Dialog mit einem Menschen, der Versicherungskarte und Überweisungsschein an sich nahm, erstere einlas, letzteren behielt, ein paar Fragen stellte, die Antworten auf seinem Bogen abhakte und mich dann mit einem “Ihre Wartenummer gilt weiterhin” in den “Wartebereich rechts ums Eck” entließ. Der war klein, schlauchförmig, düster, mit 4 fast vollbesetzten Sitzreihen und so gut wie ohne Restsauerstoff in der Luft.
Da saß ich dann. Nach kaum 20 Minuten wurde die Nummer 3 aufgerufen. Über 150 Seiten meiner Dünndruck-Space Opera später, nachdem alle Zehnerschritte bis 100 wenigsten einmal dran waren (dass man Eltern mit kleinen Kindern vorzieht oder Menschen mit akuten Problemen versteht meine Empathie, aber irgendwann mein plattgesessener Hintern nicht mehr) waren wir wieder in den Endzwanzigern, dann kam 96 und dann meine Nummer. Ich wurde in eines von den 20 Kabuffs an der Rückwand dieses Wartebereichs gerufen, dessen Ausstattung aus einer Liege, einem Dreh- und einem Patientenstuhl, einem Kinderschreibtisch, einem Mülleimer, einem Hängeschränkchen sowie einer Medizinstudentin bestand, die die Fragen der Aufnahme von vor dreieinhalb Stunden wiederholte, mehr Häkchen machte und Allergien notierte, das Bein beschaute und dann darauf verwies, dass die Ärztin gleich kommen werde. “Gleich” war 20 Minuten später. Eine sehr schlanke Weißkitteldame fädelte sich durch das Mobiliar Richtung Bein, beschaute auch und befand es als unschön, aber nicht besorgniserregend, empfahl für den Aufenthalt an der frischen Luft unbedingt Sonnenschutz aufzulegen, das Bein zu beobachten und sodann sich.
Nach meinen US-Erfahrungen habe ich das deutsche Gesundheitssystem, selbst für Kassenpatienten, immer über den grünen Klee gelobt (was zugegebenermaßen einfach ist, wenn man in einer gutversorgten Großstadt lebt), aber diese Erfahrung hat mich dann doch mehr an die Schauergeschichten vom National Healthcare Service in England erinnert. Aber wie schon gesagt, ich fürchte, dass dergleichen in unserer zunehmend alternden Gesellschaft zur Normalität werden wird. Dystopia is real.