Mitte letzten Jahres hatte ich täglich Arztrechnungen im Briefkasten. Für alles, angefangen beim skalpellführenden Chirurgen über Bettlakenreinigung bis zur Pediküre der Krankenhausempfangsdame – okay, das letzte war erfunden. Es ist aber nicht gelogen, daß man mir für eine Packung Tupfer knapp drei Monate nach der OP eine separate Rechung über $28.70 gestellt hat. Keine Ahnung, ob da wer nachgezählt hat und eine Handvoll von den hübschen Wattebäuschchen mit der Goldkante fehlten oder was. Wahrscheinlicher ist, daß ich die Rechnung dem sogenannten “Chargemaster” zu verdanken habe. Der Chargemaster ist das System, nach dem Krankenhäuser auch im Jahr 2 von Obamacare auswürfeln, welchen Teil der Kosten ein Patient selbst zu tragen hat. Entscheidende Faktoren sind die Art seiner Krankenversicherung, das Lieblings-Deo des Chefarztes und die Schuhgröße des neuen Pflegers auf dem 2. Stockwerk, in manchen Bundesstaaten fließt auch der Tidenhub bzw. die durchschnittliche Windstärke ein. Grundregel: Patienten ohne Versicherung sind Freiwild und bringen dem Hospital am meisten. Krankenversicherungen gefährden den Profit, weil sie wenigstens gedeckelte Beträge aushandeln sowie angemessene Zahlungsbedingungen.
Richtlinien wer wann wieviel wofür abrechnen darf, sind nicht in die Gesetzesvorlage eingeflossen. Lobbyist ist hier ein anerkannter und gutbezahlter Beruf. Aufgemerkt: zwischen diesen beiden Sätzen besteht ein Zusammenhang.
Jetzt bin ich wieder gesund und munter und hatte schon lange keine “medical bills” mehr in der Post. Vielleicht bin ich deswegen erschrocken, als da heute ein dickes Kuvert mit dem Absender “One Medical Group” ankam. Mein erster Gedanke war denn auch, ob dem Chargemaster noch was eingefallen ist, das er mich bezahlen lassen könnte. Eventuell das Paar – noch immer ungetragener – ekligblauer Unisize-Socken mit Gummistoppern, das mir die Physiotherapeutin nach den ersten Gehversuchen gegeben hat? Aberaberaber… das war doch ein Geschenk? Dafür darf der doch gar kein Geld verlangen? Tut er auch nicht.
Nur die Ruhe. Ich soll was umsonst kriegen. “Sabine, get your first 3 months free” steht da in Großbuchstaben fettgedruckt zu lesen und in einem etwas kleineren Font immer noch fettgedruckt “And a 4th month free if you sign up within one week”. Dankeschön auch, das ist aber nett. Worum gehts? Um mich, schreiben sie. Darum, daß man sich bestens und liebevoll um mich kümmert, so wie’s mir zusteht. Das wird ja immer netter. Verabredungen am selben oder am nächsten Tag. Termintreue und Pünktlichkeit. E-mail-Kontakt. Eine eigene App. Mann, ist das nett, das kann ich doch gar nicht annehmen. Und das wollt ihr alles für mich tun, ohne eine Gegenleistung zu erwarten? Jeeiiiin, nicht ganz. Ein bißchen was muß ich auch für die Doktoren und ihr Team tun. Nämlich Mitglied werden. Aber weil ich zum ausgewählten Kreis derer gehöre, deren Adresse das Krankenhaus an irgendwelche Werbetreibenden verkauft hat, kostet mich das im ersten Jahr keine $149, sondern nur $111.75 und zusätzlich nur die Arzt-, Labor- und sonstigen Rechnungen. Heiliger Äskulapstab! Ein Arzt-Abo. Für nicht mal zwölf fuffzich im Monat. Dafür, daß ich, wenn ich krank bin, einen Termin bekomme und der Termin ohne Wartezeiten eingehalten wird. Nicht zu vergessen e-mail und App.
Ich habe mir die Website angesehen, für mich geht das Konzept nicht ganz auf: die Ärzte sind vorwiegend Internisten (erschreckend viele mit dem Schwerpunkt Ernährung und Lifestyle), dazu kommen in der City und im Silicon Valley noch einige, die Traditionelle Chinesische Medizin praktizieren. Für alle anderen Disziplinen müßte man nach deren Logik ein weiteres Abo beim jeweiligen Facharzt buchen. Ich könnte mir aber vorstellen, daß das Konzept recht erfolgreich wird, gerade in den hiesen Großstädten, bei der entsprechenden coolen Merkantil-Klientel. Was aus pekuniär schwächeren Kranken wird, ist nun wirklich nicht deren Problem. Sie hams ja und wer sich kein Abo leisten kann, muß halt warten und schauen, wo er bleibt. Gut finden kann ich das nicht. Sollte es nicht primär ums Heilen gehen und erst sekundär ums Geschäft?
Ja. Erwischt. Manchmal bin ich naiv.