Die Brixener Musketiere oder Zieht euch warm an!

Ich stehe an einem jener Schon-wieder-ein-Hitzerekord-Tage vor dem Kleiderschrank und versuche, aus dessen Tiefen irgendwas noch Luftigeres auszugraben, da piept die SMS der besorgten Reiseleitung herein: man möge bedenken, dass in einer Höhenlage gespielt und die dortigen Nächte gar grausig kalt werden und sich entsprechend mit warmer Kleidung rüsten. Die Klimafachkraft hat schon mal den Watzmann inszeniert und ist ausgewiesene Spezialistin für böse Berge. Wenn die das sagt, dann muß es stimmen. Also zum locker-leichten Ist-das-heiß-heute-Gewand ein gutgefüttertes Hoodie gepackt und warme Socken und vielleicht doch noch einen Wollpulli? Nein. Irgendwann ist genug. Schlimmstenfalls halt frieren. Aber echt? Frieren? Nein, doch lieber den Pullover. Sicherheitshalber. Man ist schließlich gewarnt worden und Kunstgenuß mit Klapperzähnen ist keiner.

Worum geht es hier eigentlich? Es ist wieder Kultursommer hinter Gittern im Tschumpus zu Brixen. In diesem Jahr habe ich als Veranstalter Rothmüller Reisen gewählt und kann das Unternehmen nur vollsten Herzens empfehlen. Die Regisseurin persönlich chauffiert ihre Gäste in der Kulturlimo nach Bella Italia… Ah, Moment, ich sehe, ich muß die Fachterminologie erläutern. Unter einer Kulturlimousine versteht man ein Fahrzeug, in dem dem auswärtigen Besucher eine Übersicht der Fein- und Besonderheiten der Südtiroler Mentalität, Brutpflege, Tourismus, Politik sowie allgemeinem Sumpf übergeben und diese anschließend mündlich ausführlich und mit Beispielen erläutert werden. Es gibt einen Test. Warum? Damit er nicht dumm dasteht, der “Deitsche”, wenn sich die Einheimischen wie narrisch amüsieren über Stich- und Reizworte wie Knödel/Sugo, Freiwild, Heller Garten, Baumhotel und “Das doppelte Erlebnis”*.

Aber zurück zu Rothmüller Reisen. Nachdem der Brenner überwunden und die Franzensfeste passiert ist, erreicht man Brixen und wird sofort in eine reizende kleine Bar geführt, deren Inhaber neben frischem kühlen Weißwein aus der Region ganz herrliche kleine Schlampereien auftischt, sozusagen die italienische Variante von Tapas und nimmt anschließend den Kaffee (also jeder seinen in seiner ganz persönlichen Variante; hey, wir sind in Italien) im schattigen Garten des Alten Schlachthofs. Dort werde ich meiner Gastgeberin übergeben. Ingrid und ich haben einander zwar vor mindestens 10 Jahren das letzte Mal gesehen, der Empfang ist aber so herzlich, als sei es erst vorige Woche gewesen. Noch einmal ganz vielen Dank für deine Gastfreundschaft, liebe Ingrid. Des kriagst z’ruck! Wir verbringen den Nachmittag damit, uns halbwegs auf den aktuellen Stand zu bringen und dann ist es auch schon höchste Zeit fürs Abendessen. Unbedingt an die warme Kleidung denken, irgendwann wird die Nacht schon noch kalt werden.

Der Tschumpus ist für diese letzte Vorstellung bis zum letzten Treppenstufenplatz ausverkauft und bis endlich alle Besucher da sitzen, wo Ingrid sagt, dass sie gefälligst sitzen sollen, vergeht ein Zeitl. Dann ist der Mond aufgegangen und es geht los. Die Drei Musketiere, in der Bearbeitung von Alexandres Dumas (père) und Liegl. Für die Inhaltsangabe darf ich die Regisseurin, Frau Rothmüller (ja, die von Rothmüller Reisen) zitieren, zur Vorstellung sag’ ich dann wieder was: Die drei Musketiere sind angesiedelt im Frankreich des 17., aber auch im Brixen des 21. Jahrhunderts. Im Europa der Gegenwart und der Vergangenheit. Es geht um die alten Themen Liebe, Macht, Verrat und Intrige und um die modernen Themen Liebe, Macht, Verrat und Intrige. Es ist die Geschichte von König Ludwig XIII, Königin Anna von Frankreich, ihrem Lover Buckingham, dem bösen Kardinal Richelieu, der noch böseren Lady de Winter, D‘Artagnan, Athos, Aramis und Porthos. Und es geht um einen Diamantenraub, der keiner ist. Aber natürlich dürfen auch Kompatscher der Erste, Trump der Goldene, Berlusconi der Erstandene und Angela die Ewige nicht fehlen. Dazu Musik einer dreiköpfigen Band, die mit mindestens zwölf Händen alle Instrumente aber auch Degen, Regenschirm und Kerzenständer meisterlich bedienen kann. Eine Hauptrolle spielt natürlich wieder der magische Aufführungsort – der Brixner Tschumpus – Gefängnis und große Welt in einem. Ein Ort, der Heller leuchtet als jeder Garten.

Es geht los: ein junger gascognisch-südtirolischer Nesthocker träumt mit herzensbedürftig nach oben gerichtetem Blick von einer Karriere bei der Agenzia delle entrate (dem Finanzamt, das im wirklichen Leben seit diesem Jahr direkt am Tschmupus in den 3. Stock eingezogen ist) und weil’s eine Liegl/Rothmüller-Produktion ist, darf er, muß er seine Sehnsucht singen. Zur Melodie der Schicksalsmelodie aus Love Story schmettert Peter Schorn sehr gefühlvoll “Innenrevision…”. Die Eltern (Patrizia Solaro und Georg Kaser) haben andere Karrierepläne für den Buben. Bei den Muskatellern soll er sich verdingen und so zieht er in die Fremde, mit Knödeln und Sugo im Beutel.

Musketiere bad guysIn der Hauptstadt angekommen, trifft er auf “nicht sechs, nicht fünf, nicht viere” Musketiere (Alex Liegl und Josef Lanz sowie in der schönsten Hosenrolle der Welt: Viktoria Obermarzoner), Kardinal Richelieu (Georg Kaser) im vorbildlich karminroten Kardinalkleidchen mit Pfaffenhütchen und alles andere, als vor weltlichen Gelüsten gefeit, dessen Obergeheimpolizisten Rochefort und seine Armee in bösem Schurkenschwarz,  die schöne kluge Königin (Miriam Kaser) im Hula-Hupp-Reifenrock und ihr royales Kaschperl (Peter Schorn) (Ähnlichkeiten mit lebenden Machtmännern sind beabsichtigt), die gescheite und tapfere und sehr hübsche Schneiderin Constance (Viktoria Obermarzoner),Musketiere good guys den Geliebten der Königin Graf Buckingham (Alex Liegl), very British, mit the stiffeste upperlip ever und im schottischsten aller Clantartans und dem unionjackigsten Unterbeinkleid der Menschheitsgeschichte und – tuschtaratata! – die böse böse Mylady de Winter (Ingrid M. Lechner) im kardinalroten Gewand, das möglicherweise dezente Hinweise auf ihre Allianzen geben soll? (Aufmerksamen Leserinnen ist spätestens jetzt aufgefallen, dass viele der Akteure in (mindestens) Doppelrollen besetzt sind.)

Mir hingegen ist aufgefallen, dass der blogpost viel zu lang wird, wenn ich nun die ganze Inszenierung nacherzähle, obwohl sie es verdient hätte und mir alle leidtun, die sie nicht gesehen haben. Darum darf ich noch einmal sinngemäß die Regisseurin zitieren: im folgenden wird geliebt, geherrscht, verraten und intrigiert und zwar singend, fechtend, tanzend, kletternd, schießend, rennend, flüchtend, saufend, raufend, schnaufend, rudernd, reitend, sänftentragend, leidend, jubilierend, triumphierend, abgeseilt und angebunden, zu Wasser (der Lord ist zu Schiff nach Engelland, die Retter der Königin ihm nach – was für ein herrlich verfremdetes Wassergefährt), zu Lande und in der Luft und manchmal explodiert** was. Großes Tempo, viel Leidenschaft und die Musi (Stephen Lloyd, Markus Dorfmann, Matthias Baumann, Ingo Ramoser) spielt dazu. In einer unwahrscheinlichen Bandbreite von Elif über ein La-La-Landadelmedley bis zu einer ganz eigenen Version des Piafschen Nichts Nichts und Nichts bereuen. Welch würdigerer Abschluß hätte einem dazu einfallen können als die Allez-les-Bleus-Forza-Azzurri-Hoch-leben-die-Musketiere Hymne? Diese Brixener Version von Azzurro steht ganz lässig auf einer Stufe mit der von Altmeister Celentano. Man kommt als Rezensentin mit dem Loben gar nicht nach und dabei sind bitte alle eingeschlossen, die man gar nicht sieht, die Bühnenbauer und Kostümbildner und Choregraphen und die vielen vielen freiwilligen Helfer – ihr habt eine supertolle Produktion abgeliefert. Molto molto grazie!

Falls ich irgendwen oder -was verwechselt habe, bitte ich um Entschuldigung. Alle Fehler sind meine. (Es kommt nicht so oft vor, dass ich ein Stück nur einmal sehe und bei fast zwei Stunden mag mir, trotz der sorgfältigen vorbereitenden Schulung, das eine oder andere Detail auf die falsche Synapse gesprungen sein.)

Sonst bleibt mir nur, mich noch einmal bei Ingrid für das freundliche Quartier und sowieso bei Rothmüller Reisen zu bedanken, die uns auch zügig zurück nach Hause gebracht (mit Nachbereitung der Vorstellung) und zu allem Überfluß eine Flasche vom guten Manni Nössing Grünen Veltliner hergeschenkt haben. Und wo ich gerade dabei bin, einer fehlt noch: Brixen hat uns mit einer zauberhaft lauen Nacht beschenkt und Pulli und Hoodie haben den Rucksack nie verlassen. So lob ich mir das!

 

* Ich zitiere nachfolgend die Erläuterungen zu meiner kleinen Auswahl aus der “Handreichung”:

  • Knödel/Sugo: Verhaltensmuster Südtiroler Eltern, ihren Kindern grundsätzlich eigene Speisen ins Ausland mitzugeben.
  • Freiwild: Sehr erfolgreiche Brixener Deutschrockgruppe. Immer wieder unter dem Verdacht, rechtes Gedankengut zu unterstützen
  • Heller Garten: Der Stadtrat Brixens steht mit André Heller in Verhandlungen, den Hofgarten der Stadt zu gestalten. Schon die Planung ist sehr teuer. Stadträte sind für Besichtungen eigens nach Marokko gereist.
  • Baumhotel: Edles Hotel bei Brixen, vom Klerus finanziert.
  • “Das doppelte Erlebnis”: Werbespruch des Brixener Tourismusvereins.

** Es hilft zu wissen, dass die Rothmüller Reisen Limo ebenfalls ein zertifizierter grenzüberschreitender Gefahrguttransporteur ist.

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