Ich werde in ein paar Wochen meinen Wert massiv steigern und morsche Knochen gegen Titan austauschen lassen. Bevor ich auf den OP-Tisch darf, muß ich jedoch “total joint replacement-classes” besuchen, in denen zukünftige Patienten darin unterwiesen werden, wie sie aus ihrem post-operativen Leben das beste machen. Ich nenne diesen Unterricht flott “cripple class”, was den amerikanischen Kollegen die kalten Schauer über den Rücken treibt. “Sowas” darf man doch nicht sagen. Noch nicht mal über sich selbst und schon gar nicht im Spaß. Aber, wende ich ein, ich werde doch für eine Weile ein Krüppel sein, das ist doch nichts schlimmes. Ja, schon, aber es sei doch nur für einen begrenzten Zeitraum und der sei doch eher “challenging”. Wißt ihr was, ihr politisch Korrekten? Ihr könnt mir so dermaßen den Buckel herunterrutschen. So dermaßen!
In meinem Kurs heute waren 10 angemeldet und nur ich bin gekommen. Und hatte alle für mich. Vier Personen. Die Oberschwester, die die medizinischen Abläufe und die Betreuung vorstellt und zur Besichtigungstour in den dritten Stock einlädt, wo jedes Zimmer einen sowieviel Zoll Flatscreen habe. Toll. Ich komme aber eigentlich nicht wegen des Fernsehens. Macht nix, ich kann auch eigene DVDs mitbringen. Auch Bücher? Ja, klar. Auch Bücher. Brauchts aber nicht, denn jedes Zimmer hat einen sowieviel Zoll Flatscreen. Dann erklärt der Physiotherapeut mit kleinen Lehrfilmen, wie ich wieder liegen, sitzen, gehen, stehen usw. lernen werde und daß mein Bett daheim falsch rum steht. Aber kein Problem, einfach das Kopfkissen ans Fußende und mich andersrum hinlegen und dann steht das Bett richtig. Als nächstes ist die Occupational Therapist dran, die lauter Spielsachen mitgebracht hat. Einen Badeschwamm mit langem Griff (gut auswaschen, sonst schimmelt der sofort), Schuhlöffel an langen Stangen (kann ich mir vielleicht sparen, Anfang Mai ist hoffentlich schon Sandalenwetter), einen Greifer mit Magnet am Ende (der aber keine Kupfermünzen kann, das habe ich an einem gefundenen Penny sofort ausprobiert), ein Sockenanziehgerät (s. Schuhlöffel) und Sitzkissen und Keile und dies und das und das allerbeste: das kann sie mir alles unfaßbar günstig besorgen. Kann ich das eventuell auch ausleihen? Nein, verliehen wird nix. Es scheint allgemein die Meinung vorzuherrschen, daß, wer sich so eine sündteuere OP leisten will, auch genug Kohle für die Spielsachen haben muß. Dann verabschieden sich die drei und lassen mich mit der Vertreterin der Pharma-Industrie allein. Die soll mir schmackhaft machen, daß ich einen Sensor in meine neue Hüfte einbauen lasse, denn damit könne man wichtige Daten über die Lebensdauer meines Titangelenks sammeln. Mein Mithilfe werde in den von mir auszufüllenden “surveys” in den nächsten Jahren unendlich wertvoll sein. Hier, ein Stift, um die Einverständniserklärung zu unterschreiben und meine Sozialversicherungsnummer einzutragen. Die “SSN” ist die wichtigste Nummer im Leben eines Amerikaners und begleitet ihn von der Wiege bis zur Bahre. Ohne die ist man hier nichts. Warum, will ich wissen, will die Pharma-Industrie die von mir? Na, das Krankenhaus dürfe sie doch des Datenschutzes wegen nicht weitergeben. Ja? Und? Und deswegen soll ich sie selbst eintragen. Ja? Und? Wofür? Tja. Öhm. Kopfkratz. Die brauche man eben. Ich solle doch auch mal die Vorteile bedenken: man werde noch mehr aufpassen, daß ich vor Infektionen geschützt sei und für meinen Arzt sei es auch sehr hilfreich, wenn alle seine Patienten bei der Studie… Moooment! Das muß ich mir gut überlegen. Ich nehme jetzt alle die Zettel mal mit und lese mir das am Wochenende in Ruhe durch und dann sehen wir weiter. Und dann der Brüller: eigentlich gebe sie die Unterlagen ungerne aus der Hand. Normalerweise würde das gleich hier ausgefüllt und sie nehme das dann mit. “Seriously? Ohne daß der Patient eine Kopie davon hat?” Das, meint sie, werde eigentlich nie nachgefragt. Ich glaube, ich spinne. Entweder ich nehme das mit, lese es durch und entscheide dann, oder die Studie hat sicher eine Teilnehmerin weniger. “Your choice.” Sie entscheidet. Ich darf die blaue Mappe mitnehmen. Und sie zeigt mir sogar noch den Weg zur stationären Reha-Abteilung, der “Skilled Nursing Facility”.
Davon erzähle ich ein anderes Mal. Nur so viel: ich werde das Durchschnittsalter dort gründlich senken. Man baut im hiesigen Gesundheitssystem doch eher auf Nachsorge durch “friends and family” und gelegentliche Halbstundenhausbesuche von Physiotherapeuten. “Rehab” bringt man eher mit Drogenentzug in Verbindung. Nicht mit Muskelaufbau.
So verkauft der Kapitalist gern mal eine Versicherung oder eine Geldanlage, die weder verlangt noch passend war. Ist das nicht “crippled”?
Und seltsamerweise muß ich an eine “Skilled Tree Nursery” denken…
wenn man “Cripple” nicht sagen darf – wieso gibt’s dann orte namens “Cripple Creek” in Colorado, Delaware & Virginia? songs wie “Up On Cripple Creek” von Bob Dylan & The Band? oder “Cripple Creek” von Leo Kottke? “Cripple Creek Ferry” von Neil Young? undsoweiterundsofort… is ja total verkrüppelt, dieses Amerika!
Jetzt habe ich das mit dem Stangenschwamm endlich auch verstanden: den braucht man als Krüppel wegen der fest installierten Duschen (s. “Psycho”). Ich habe eine – wie man das hier nennt – “europäische” Dusche. Also mit einem abnehmbaren Kopf und flexiblem Schlauch.
Das Schimmelding kommt mir nicht ins Haus. Hah!