Vorrede 1: Lea Ruckpaul, die ich als Schauspielerin sehr schätze, beschreibt die Auseinandersetzung einer fiktiven Figur mit der Lesart ihrer Rolle in einem Roman. Ernstzunehmende Literaturkritiker hätten nun wahrscheinlich Vladimir Nabokovs “Lolita” noch einmal gelesen. Ich nicht. Ich habe das Buch schon damals gehaßt und nur wegen Weltliteratur und Kanon usw. zu Ende gelesen. Meine Erinnerung ist also nur wikipediaaufgefrischt. Das muss reichen.
Vorrede 2: Der Verlag, Voland & Quist, schreibt im Klappentext nicht nur eine Inhaltsangabe, sondern gibt auch gleich die zu interpretierende Interpretation vor: “Dolores Haze – die Lolita aus Vladimir Nabokovs gleichnamigem Roman – ist vom Mädchen zur Frau geworden. Mit Ende dreißig blickt sie zurück auf ihr beschädigtes Leben und fragt sich, wie sie die geworden ist, die sie heute ist. Lea Ruckpaul erzählt in ihrem Debütroman von einer Überlebenden, die sich freischreibt und die um keinen Preis ein Opfer sein will. ‘Bye Bye Lolita’ ist der wütende Abgesang auf ein Klischee, welches das Bild von jungen Frauen bis heute prägt – und auf die Machtverhältnisse, die das ermöglichen. Ein Roman über das größte Missverständnis der Literaturgeschichte.” Danke, Verlag. Aber ich bilde mir meine Meinung gerne selber.
Vorrede 3: Dieser Verlag, der mir alles vorkauen will, hat nicht gerechnet. Die Dolores Haze, die sich hier mit ihrem Leben in all seinen Ambivalenzen auseinandersetzt, ist gerade mal 35. (Lolita ist 12, als ihre Mutter 1947 stirbt. Zwei Jahre später gelingt ihr die Flucht und 21 Jahre später, im Jahre 1970, beginnt sie mit ihren Aufzeichnungen.)
Vorrede 4: In Nabokovs Roman beschreibt ein Literaturdozent unter dem Pseudonym “Humbert Humbert” im Gefängnis von seiner “Eroberung” der 12-jährigen “Nymphette” Lolita über den Umweg der Eheschließung mit ihrer Mutter, deren Tod, den fast zweijährigen Roadtrip mit der “kindlichen Geliebten” und schließlich seine Verhaftung, wegen Mordes an einem vermeintlichen Nebenbuhler. Es mag ein Höhepunkt literarischen Schaffens sein, aber Nabokov verschwendet kein Wort über das mißbrauchte Mädchen und läßt seine Leser deren mögliche Gefühle nur aus den Schwülstigkeiten Humbert Humberts herausinterpretieren. AAAhhhrrrgg!
So, nun aber zu Ruckpaul. Ich glaube, ich habe verstanden, was sie mir ihrem Buch erreichen will. (Kunststück, hat mir der Verlag ja auch schon vorher geschrieben.) Ihre Dolores Haze arbeitet ihre Vergangenheit auf, indem sie im Wortsinne gegen Humbert Humbert anschreibt, nämlich auf die leeren Seiten seiner Tagebücher vom Ende der Bücher her. Im Gegensatz zu Nabokovs Lolita, der sie siebzehnjährig im Kindbett sterben läßt, ist Ruckpauls Dolores am Leben. Sie erkennt und erkennt an, dass Depression und Magersucht Folgen des Mißbrauchs sind, ihr Verhältnis zu Männern, Sexualität und Lust bestenfalls zweischneidig.
Wo es problematisch wird, ist, wenn Ruckpaul zwischen den Tonarten wechselt. Mal sehr rotziges, auf Provokation zielendes Kind, mal erwachsene Frau, die alle Feminismusdebatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts internalisiert und reflektiert hat. Dieser Schiefklang zieht sich durch das gesamte Buch. Ich habe mir so viele Zitate rausgeschrieben, sehe aber, dass der blogpost viel zu lang werden würde, wenn ich sie alle aufführte. Ich beschränke mich auf eines, das zeigt, wo es sich Ruckpaul zu leicht macht: “Lange habe ich geglaubt, ich sei krank und davon besessen, mit Selbstverleugnung und -erniedrigung für Geliebtwerden bezahlen zu müssen, weil ich gestört bin durch den Mißbrauch, den ich erlebt habe. Nach vielen Gesprächen mit Freundinnen und Freundinnen von Freundinnen, die ihr Zusammenleben mit Männern ähnlich beschrieben, ging ich davon aus, dass auch diese Frauen eine Form von Mißbrauch erlebt haben. Gleichgesinnte, Gleichgestörte und Kranke freunden sich eben an, dachte ich. Irgendwann habe ich erkannt: Frauen sind es gewohnt, ihre Autonomie einzutauschen gegen ‘Beziehung mit einem Mann’. Das ist das System, in dem wir leben. Das wird von uns erwartet. Und mit ‘Wir’ meine ich uns alle.”
Ah, ja. Das “System”. Darauf läuft das Buch zum Schluß heraus. Dass auch ihre Mutter vermeintlich schon keine andere Wahl gehabt hatte, so wie keine Frau vor und nach ihr. Aber für eine bloße Schelte des Patriarchats hätte es nicht noch ein Buch gebraucht. Da gibt es andere und bessere. Aber immerhin, Dolores durchläuft ihre Katharsis, exorziert Lolita und schließt: “Ich bin zu allem fähig. Auch zum Glück.” Dann ist ja gut.
Habe ich für euch gelesen. Damit ihrs euch sparen könnt.