Diese Bahnfahrt begann, wie man sie sich in einem Beitrag auf einem Bahnhasser-Portal vorstellt: als ich dienstags für Donnerstagabend ein Ticket reservieren wollte, waren die wenigen verfügbaren Züge alle bis zum letzten Platz ausgebucht. Alle. Bis zum letzten Platz. Sonst geht so gut wie alle Stunde einer von Mannheim nach München, mit dem Winterfahrplan wurde wohl die Zahl der Fahrten reduziert. Sollen sich die Leute bei Mistschneewetter doch auf den Autobahnen amüsieren, oder wie darf ich das verstehen?
Na gut, fahre ich halt am Freitagnachmittag erst heim, geht auch. Außerdem werde ich hier gebraucht, einen kleinen Schwung Reserveklamotten habe ich sowieso immer mit und die Frau Wirtin hatte mein Zimmerchen noch nicht an andere Leute vermietet. Alles gut. Also Freitag. Ein Zug von den wenigen hatte noch freie Sitzplätze und sie waren sogar buchbar (nicht, dass die Reservierung im Zug angezeigt wird. Da muss man als Reisende die Sitzbesetzer schon selbst vertreiben, darum kann sich die Bahn nicht auch noch kümmern.)
Dann heute früh in den Hunsrücker Bergen wildes Schneetreiben und als ich mittags losfahre, ist beileibe nicht geräumt, sondern mehr hinzugekommen. Grrrhhhh! Und dass es hinter Stromberg besser wird, liebe ortskundige Hinter-Stromberg-wird-alles-gut-Versprecher-Kollegin, ist ein Gerücht. Noch ekliger und der scheußliche Leihwagen, den ich habe, besteht im wesentlichen aus angelaufenen Scheiben, einem leeren Spritzlwasserbehälter und einer zunehmend ertaubenden Fahrerin, weil das Gebläse nur auf Allerhöchststufe was für Transparenz tut. Doppel-Grrrhhhh! Eine halbe Stunde später als sonst lande ich aber doch in Mannheim-Käfertal, werfe Avis das Auto zu und springe ins Taxi, um eine halbe Stunde vor Abfahrt des Zuges am Mannemmer Hauptbahnhof einzutreffen.
Mit dem Gedanken, dass das mit der warmen Mahlzeit wohl auch heute nichts wird (ich nenne das ja “PHD” = “persönliche Hunsrück-Diät”), ich aber noch Zeit für einen Fast Food Happen haben sollte, trete ich über die Bahnhofsschwelle. Sofort erklingt ein ganz widerlicher Sirenenton, gefolgt von einer valiumgetränkten Frauenstimme, die mitteilt, dass hier Feueralarm sei, man den Bahnhof über den nächstgelegenen Ausgang verlassen und schwachen Personen dabei helfen solle. Ich erfülle die Auflagen, indem ich einen Schritt zurücktrete und mein Köfferchen hinter mir her zerre und dann stehe ich mit einer wachsenden Menschenmenge vor dem Bahnhof. Die eine Hälfte der Evakuierten telefoniert, die andere beruhigt Kinder, manche schaffen beides. Die Sirene aus dem Bahnhof wiederholt sich, die Damenstimme auch, ich seh mich schon im ausgesprochen häßlichen ICE-Plattenbauhotel übernachten, Feuerwehrautos brettern unter lautem Lalü-Geheul aus allen Richtungen auf den Bahnhofsvorplatz, Männer in schicken Uniformen verständigen sich durch lautes Gebrüll, dazu Schniesel, kalter Wind und heulende Kinder. Ich habs so satt! Außerdem können meine Knochen Imkaltenrumstehen gar nicht gut und ich hab Hunger und muß mal. Ich halte das Doppel-Grrrhhhh!, verdopple und will sehen.
Tu ich auch. Nach einer Viertelstunde ist der Spuk vorbei, die Männer in den roten Autos rücken wieder ab. Anschließend nehmen die Vertriebenen den Bahnhof wieder ein. Ich höre zufällig, wie der Einsatzleiter irgendwem telefonisch mitteilt, es habe sich wohl um einen Fehlalarm gehandelt, und es bestehe kein Grund zur Sorge. Sehr schön. Ist das auch geklärt. Wie doch die Zeit verfliegt, wenn man Spaß hat. An richtiges Essen komme ich jetzt vor der Abfahrt nicht mehr. Aber essen muß ich was, Frühstück und Mittagessen sind heute ausgefallen. Dann kaufe ich halt dem reizenden Sizilianer in der Halle ein halbes Pfund ungesundes Zuckerzeug ab. Zitronencremefüllung gilt auch als Vitamine.
Wo fährt nochmal mein Zug los? Gleis 5, wie immer. Kann man sich ganz einfach merken: Das ist das Gleis, wo seit mindestens einem halben Jahr (das ist der Zeitraum, in dem der Mannheimer Bahnhof und ich einander näher gekommen sind) der Lift zum Bahnsteig kaputt ist und Krüppel, Lahme und andere, die nicht leichtfüßig unterwegs sind, regelmäßig auf der Treppe Happenings feiern. Vorbei an der Freak-Show arbeite ich mich mit meiner Cannoli-Tüte, dem schweren Rucksack und dem Köffersche die Treppe zu Gleis 5 hoch und komme gerade rechtzeitig für die Durchsage, dass der Zug heute eine geänderte Wagenreihenfolge habe und ich von Abschnitt A am Gleis bis Abschnitt G wandern darf. Eine größere Distanz gibt es im Leben von Bahnnutzern nicht. Aber die Bahn weiß ja, was sie Lahmen zumuten darf und teilt im nächsten Atemzug mit, dass der Zug “zehn Minuten Verspätung erhalte*”. Warum? “Wegen einer Verspätung.” Das ist eindeutig Grrrhhhh! in einer bis dato nie erreichten Potenz.
Inzwischen haben wir Stuttgart hinter uns gelassen, ich sitze wieder richtigrum (Stichwort Sackbahnhof) und wenn ihnen nicht noch was Abenteuerliches einfällt, dann bin ich in zweieinhalb Stunden in Pasing und dann bald daheim. Darauf ein Cannolo mit frischem Ricotta – wie von der Nonna.
* Über den Schwachsinn dieser Aussage habe ich mich, glaub ich, schon einmal ausgelassen. Wer “gibt” Zügen Verspätung? Können die sich das aus einem Katalog von Verheißungen auswählen? So wie Weichen, gereinigte Gleise oder Sackbahnhöfe? Man weiß es nicht.