Abrechnung

So ein Heilheim ist ja immer auch ein Stück weit (soll noch mal einer sagen, dass der Achtsamkeitssprech bei mir nicht angeschlagen habe…) ein Abbild der Gesellschaft. Schöne und Häßliche, G’scheite und Depperte, Dicke und Dünne, Intro- und Extrovertierte, Eitle und solche, denen es vollkommen am Ansehen der eigenen Person fehlt, was sich vor allem in der Zusammenstellung von Farben und dem Gebrauchs- sowie Geruchszustand der Bekleidung manifestiert, Laute und Leise, Kurze und Lange, Junge und Alte, wobei die Relation in der Generationenschichtung eher auf eine futuristische Gesellschaft hinzudeuten scheint. Kinder gibt es nur am Wochenende (nur kurzfristig, und nur zu Besuch), sonst “schraz’nfreie Zone” (Zitat einer anderen Heilenden). Ja, ganz eindeutig futuristisch. Und falls es wer noch nicht mitbekommen hat, Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ganz egal, ob Patienten, Therapeuten, Schwestern, Ärzte, sonstiges Personal, alle von überall her und alle mehrsprachig, in den Sprachen ihrer Eltern oder Großeltern und in mindestens einem deutschen Dialekt. Sehr schön, sehr gegenwärtig und kein bißchen futuristisch.

Außerdem handelt es sich beim Heilheim an sich um den natürlichen Lebensraum vollkommen distanzloser Menschen. Manche, bei denen ich davon ausgehen möchte, dass sie bei sich zu Hause Koryphäen in Fremdenfeindlichkeit sind, quaken hier einfach jeden an. Für sie scheint der Umstand, dass man in jüngster Zeit eine Operation an ihnen vorgenommen hat, bereits eine hinlängliche Legitimation zu sein, mit anderen unaufgefordert ins Gespräch zu kommen, manche versuchen, anhand der Bewegungsmuster Solidaritäten herzustellen: “Sind Sie auch ein Knie?”

Die scheinen diese Insitution für eine schöne große Selbsterfahrungsgruppe zu halten, mit Betonung darauf, dass andere von ihnen selbst erfahren. Und zwar alles. Sie erzählen einem in aller unerträglichen Länge und Breite, was man eh jeden Tag sieht, hört, erlebt – allerdings halt aus ihrer unvergleichbar individuellen Warte. Es ist zum Schbeiben. Was schert es mich, ob wer geduscht und ob das in- oder exklusive Haarwäsche war? Das würden sie doch beim Edeka auch niemandem auf die Nase binden, hier jedoch halten sie sowas für Breaking News. Es ist mir auch wurscht, ob die Jammertriene jetzt zu allem Überfluß eine Blasenentzündung bekommen hat. Wir sind nicht befreundet, ach was, wir wurden einander noch nicht einmal vorgestellt, und bei allem Anteil, den man als Mensch an der Mitkreatur nimmt: das geht zu weit. Viel zu weit!

Ich will auch nicht wissen, ob wer heute drei- oder fünfmal im Schwesternzimmer war, um sich Socken an- und/oder ausziehen zu lassen. Üblicherweise lernt man das in den sehr sehr frühen Kindertagen, und sollte man aufgrund des aktuellen Eingriffs gerade mal nicht mehr ganz bis nach unten kommen, kann man das üben und dann kann man seine Socken auch wieder alleine anziehen (oder nutzt ein von einem findigen Geist hierfür erfundenes Gerät). Punkt. Mir ist es auch wurscht, welche Hilfsmittel es noch alle auf Rezept gibt – ich finde es gräßlich (nicht zu sprechen vom Schaden für die Solidargemeinschaft), wenn sich jemand pro Neugelenk wieder “das ganze Paket” besorgt, bloß, weil er/sie kann. Und apropos pro Neugelenk. Es gibt welche, die können ganze Hitparaden von Heileinrichtungen aufsagen und gerade denen ist nichts gut genug. Mann, hab ich das dick! Zum Glück hatten Frau Strobel und ich jeden Tag Leut’ ausrichten auf dem Programm – sonst hätte ich jetzt bestimmt ein Magengeschwür.

Aber jetzt zu den wirklich wichtigen Themen: Cripple fashion – Was ist in dieser Saison (ich kenn ja keine andere) tippitop oder flippiflop? Hmmm. Schwieritsch. Die modischen Auswüchse sind hier genauso breitgefächert wie draußen in der wirklichen Welt und man möchte gar nicht glauben, zu welchen Verbrechen am Menschen Freizeitkleidungsdesigner fähig sind. Hier einige der auffälligsten Linien:

Mollykrüppel: Fette Frauen glauben offensichtlich immer noch an die Mär vom schlankmachenden Effekt von Großdrucken. Mesdames, glaubt mir: das macht nicht schlank. Es fällt nur einfach mehr auf, wenn die Zeltbahnen um euch herum mit großen auffälligen Mustern in leuchtenden auffälligen Kontrastfarben herumwallen. Sonst nix.

Wüstenkrüppel: Männer orientalischer Herkunft tragen schlabbrige Turnhosen von Ralph Lauren (nur echt mit dem Polopferd) sowie thematisch dazu abgestimmte Unterwäsche von Jockey mit extrabreitem und gut lesbarem Gummibund. Den dattelgestählten Oberkörper bedecken sie mit dicken Polsterjacken von der Kanadischen Gans und zwar in dieser Kombi, drinnen wie draußen und zu jeder Tages- und Nachtzeit. Auch auf dem Trimmdichfahrrad.

Schickkrüppel: Wer sonst auf der Maximilianstraße einkauft, leidet auch hier mit Stil. Meine persönliche Favoritin ist “die Gräfin”, die sich seit Wochen im Rollstuhl herumkutschieren läßt, weil Krücken an ihr einfach nicht aussehen. Zum Kostümchen trägt sie Tücher von Hermès, dazu einen Louis Vuitton Turnbeutel, die Stützstrümpfe sind von Karl Lagerfeld persönlich gewirkt und wenn es mal ein Freizeitanzug sein sollte, dann ist der Pink (doch, in diesem speziellen Fall muß die Farbe als Substantiv verwendet werden) und aus Chenille, mit Pelzkrägelchen. Selbstverständlich sind Madame stets perfekt geschminkt und lassen sich und ihren Putz gerne von einer der hiesigen Hilfskräfte zur Raucherecke rollen, wo sie bei der Abfahrt halbe Hundertermentholkippenekligkeiten mit Lippenstiftspuren zurückläßt. Sie zöge im übrigen vor, den Aschenbecher nicht mit dem Plebs zu teilen.

Beutelkrüppel: Jede/r hier Genesende bekommt vom Haus einen Krüppelbeutel. Das ist eine Leinentasche mit Querriemen, beidseitig mit Namen und Logo des Heilheimes bedruckt und dafür vorgesehen, dass Patienten damit Leintuch (zwecks “Hygiene” auf den Behandlungsliegen), Patientenausweis, Zimmerschlüssel etc. gefahrlos mit sich herumtragen können (die Hände sind, wir erinnern uns, voll Krücken). Die meisten Damen führen im Krüppelbeutel noch ein Täschchen mit dem dringendst Notwendigen mit sich (Lutschpastillen, Lippenstift, loses Geld für einen schnellen Kaffee oder einen Spontaneinkauf in der hauseigenen Boutique), die meisten Männer lassen ihren ständig irgendwo liegen, was als Indiz dafür zu werten sein dürfte, dass sie sonst eher keine Handtaschen tragen. Eine auffällige Subspezies der Beutelkrüppel sind alte Männer. Aus unerfindlichen Gründen tragen sie ihre Beutel mit einem Verkürzungsknoten im Genick wie ausgebeulte Riesenbabylätzchen; mich dünkt beim einen oder anderen, dass ihn die langjährige Gattin bereits langjährig haßt und auf diese Weise der Lächerlichkeit preisgibt, aber was weiß ich schon.

Botschaftskrüppel: Ich habe von Mode wenig Ahnung. Vielleicht trägt frau in dieser Saison einfach Motto-T-Shirts mit irgendeinem Motivations-Großdruckschwachsinn in Glitter sowie Herzerl, Blümerl, Zeugs. Weil ich aber grundsätzlich ein wohlmeinender Mensch bin, will ich bei den meisten zu ihren Gunsten annehmen, dass sie keine Ahnung haben, welche sinnfreien Botschaften sie auf auswärts auf Brust und Bauch, in Einzel- und Sonderfällen auch Rücken in die Welt hineinblasen. Wenn sie’s nämlich wüßten, sollten sie sich schämen, Buße tun und hinfort Einfarbiges tragen müssen. Und nein, Buße tun bedeutet nicht, die Dinger in den Dritte-Welt-Spenden-Sack zu geben. Wirkliche Buße wäre, wenn sie jede einzelne Paillette abnagen müßten. Herr im Himmel, wenn ich noch einmal lesen muss, dass wer die Sonne fangen will oder links geht, wenn “nothing goes right”, dann… dann… dann… sag’ ichs meinen zehn großen Brüdern!

Tierkrüppel: Selbst wenn Anna Wintour ihn schon tausend Mal totgesagt und wahrscheinlich inzwischen längst verboten hat: hier im Heilheim ist Animal Print der letzte Urschrei und die Farbskala wird nach der Je-oller-je-doller-Skala bemessen. (Neontöne erst ab ca. 80 Lebensjahren, aber dann richtig!) Das Strafmaß dafür denke ich mir noch aus, es liegt aber höher als für textilen Sinnfreischwätz.

Aber genug von modischen Verirrungen, auch hier im Heilheim kommt Fressen vor der Moral und wir sind am Büffet angekommen. Die üblichen Beobachtungen spare ich mir, die kennt eh jede/r, die unüblichen kann ich immer noch nicht ganz fassen. Es war nämlich so: der letzte Schwung Patienten, der vor meiner Abreise im Heilheim eintraf, war aus der Geriatrie rekrutiert worden, Kriegs- und frühe Nachkriegsgeneration, Menschen, die irgendwann wirklich Hunger erlitten hatten. Oder das Verhalten ist darauf zurückzuführen, dass sie zu den mutigen Pionieren des Pauschaltourismus in den Fünfzigern zählen, anders kann ich mir nicht erklären, dass sich ab 17:00 Uhr in der Cafeteria Greise mit ihren Gehgeräten zusammenrotteten, um in einer gemeinsamen mentalen Anstrengung den Rollparavent vor dem um 17:30 Uhr öffnenden Speisesaal wegzustarren.

Den auf die Minute pünktlichen Einfall der Rowdyrentner, für die Krücken gleichermaßen als Gehhilfe wie Waffenersatz zählen, habe ich nicht miterlebt, weil ich mich da gerade mit einer Feierabendzigarette von meinem Sonnenbankerl verabschiedetete, wohl aber den niedrigst möglichen Pegelstand, der in und auf allen Schüsseln, Platten, Tellern, Töpfen gegen 18:15 Uhr herrschte. Ein versprengter Dillzweig, ein verängstiges Tomatenviertel, ein paar am Boden zerstörte (ja, wörtlich zu nehmen) Knäckebrotbrösel, Restbestände an Roter Beete und sonst nichts, nada, niente, nitschewo. Totaler Kahlfraß. Das ebenfalls sichtbar schockierte Personal füllte eilends nach, was die abrückende Rempelrentnerhorde dazu nutze, noch schnell die Taschen mit ein paar Butterpackerl (WTF?) aufzufüllen. Dann waren sie weg und die nachfolgende Generation kaute schweigend an der Nachlieferung.

Großes Lob an El Knie: gerade rechtzeitg gesund genug, um nicht eine der heißen Schlachten am kalten Büffet mitschlagen zu müssen. Ich koche dann mal wieder selber.

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