Gesegnetes Alter?

Sonntagnachmittag. Es läutet Sturm. Vor der Tür, die Hand noch immer auf der Klingel, ist meine greise Nachbarin Lyn, im feinen Rosenblüsle, mit frischem Lippenstift und gebürsteten Haaren. Klein und verhutzelt steht sie da und fragt mit einem Stimmchen, das schon die Erwartung in sich trägt, daß der Zeitpunkt gerade doch nicht paßt, an: “Can I come visit?”, was bedeutet, sie möchte nicht nur zwischen Fliegentür und Angel einen Schwatz halten, sondern hereingebeten und im Idealfall mit einem Heißgetränk und Keksen bewirtet werden.

Weil ich manchmal seniorenfreundliche Anwandlungen habe, und weil sie mich in diesem Moment wirklich so recht von Herzen dauert, lade ich zu Kaffee und Gebäck und sie erklimmt glückstrahlend einen Küchenstuhl, schaut mir beim Kaffeekochen zu, baumelt mit den Beinen und redet. Redet davon, wie der Pastor in der Kirche, der Kirche drüben beim Seven-Eleven, wo bei dem schlimmen 89er Erdbeben der Kirchturm herabgestürzt  ist und nie wieder aufgebaut wurde, was ja wirklich schade sei, weil die Kirche vorher viel hübscher war und wo sie jetzt öfter mal hingehe, also heute zum zweiten Mal, weil sie habe es zwar nicht mit der Religion, aber man könne schließlich nie genug Leute kennen, weil die, die man kennt, sterben einem ja unter den Händen weg, wie also der Pastor der Kirche, der Kirche drüben beim Seven-Eleven, sie heute öffentlich vor der ganzen Gemeinde, die ja nun nicht groß sei, aber doch immerhin groß genug, als daß man dort neue Freunde finden könne, wie also der gute Pastor sie heute vor allen anderen mit Namen begrüßt habe. Ganz hin- und weg ist sie, daß er sich an ihren Namen erinnert hat. Nur den Vornamen, aber das sei doch schon was. Und alle hätten ihn gehört.

Dann ist der Kaffee fertig und eingeschenkt und sie bewundert die Tassen und das Milchkännchen und nach dem ersten Schluck lobt sie mich, weil der Kaffee schmecke wie der ihrer Mutter, die bis zum Ende ihrer Tage die Bohnen noch mit der Hand gemahlen habe und dann portionsweise Wasser aus dem Kessel aufgegossen, damals als man noch so viel Zeit hatte für die guten Dinge, wobei ihr ihm Moment gerade entfallen sei, ob sie die Kaffeemühle eigentlich noch irgendwo und wenn ja, wo, herumstehen hat oder ob sie die, wie so viele andere Erinnerungsstücke an die Mutter seinerzeit wegegeben habe. Ja, sage ich, der Kaffee ist eigentlich geschummelt und besteht zu einem Gutteil aus Kakaobohnen und ich kaufe den bei Trader Joe. Hach, da leuchtet jede einzelne Falte in ihrem Gesichtchen auf. Trader Joe!* Besseres finde man hierzulande nicht. Der habe doch bestimmt auch diese unglaublich schmackhaften Kekse gebacken? Hat er nicht, aber sie freut sich so, daß sie auch den Bäcker Joe erkannt zu haben glaubt, daß ich ihr zustimme. Das freut sie gleich noch mehr.

Heute sei einfach so ein guter Tag, sagt sie. Erst war sie nämlich in der Kirche drüben beim Seven-Eleven mit dem netten Pastor, auf dem Rückweg habe sie ihre Freundin ganz hinten in unserer Straße besucht, die zum Glück von der schlimmen Lungenentzündung genesen sei und schon wieder herumlaufe und sie vielleicht nächste Woche beim Kirchgang begleiten werde und sich ganz arg für Lyns viele Genesungskarten bedankt habe, dabei habe es die arme Frau so schwer, wo ihr doch letztes Jahr erst ihre langjährige Freundin weggestorben sei. 40 Jahre hätten sich die beiden ein Haus geteilt und Lyn vermutet, sogar das Schlafzimmer, aber sie maße sich da kein Urteil an. Komisch sei es aber doch, oder? Und jetzt hätte sie wieder eine “Companion” im Haus, und die sei min-des-tens 20 Jahre jünger. Aber sie, Lyn, sei ja tolerant. Total tolerant. In ihrem Senior Center gibt es sogar ein schwules Paar. Das seien Männer, da sei “das” doch eher normal. Bei Frauen, kneift sie das ganze Gesicht zum Runzelapfel zusammen, sei es doch eher unnatürlich. Aber sie sei die letzte, die in diesen Angelegenheiten Vorurteile habe.

Nachdem wir das geklärt haben, bespricht sie noch die allgemeine Sicherheitslage. Ganz schlecht. Sobald es dämmere, lege sie den Riegel vor und schließe ab. Zwei Mal. Nachts rausgehen? Nie im Leben! Da müßten sich die jungen Auftakeldinger gar nicht wundern, in ihren nabelfreien Fähnchen, wenn Männer über sie herfallen. Ich widerspreche, selbstverständlich, und sie läßt mich auch ausreden, vor allem, weil sie weiß, daß sie recht hat und ich nicht. Wenn schon nachts als Frau draußen, dann eben nicht zu Fuß, sondern im Auto. Wobei, Auto, das wollte sie mich immer schon mal fragen (so ein geschickter Themenwechsel), warum kauft mir meine Firma eigentlich keinen Mercedes? Sie selbst fahre ja nicht mehr. Damals, als sie mit über 70 einen Unfall mit Totalschaden (“I totalled my car”) hatte, an dem selbstverständlich jemand anders Schuld war, habe man doch beim DMV ganz impertinent darauf bestanden, daß sie noch einmal die Führerscheinprüfung ablege. Mit Sehtest und schriftlicher Prüfung und, das sei doch kaum zu glauben, auch noch mit praktischer Prüfung. Am meisten Bammel habe sie vor dem Sehtest gehabt, weil ihre Augen damals schon nicht mehr so gut waren, aber da habe sie sich durchgemogelt und die hätten das nicht mal bemerkt. Das Genick gebrochen habe ihr die theoretische Prüfung. Ihr, die noch heute ganz genau sehe, was Autofahrer falsch machen, weil sie nämlich genau weiß, wie es richtig wäre. Und dann lassen die Deppen sie durchrasseln. Sie konnte auch dafür nichts, die haben ganz einfach die falschen Fragen gestellt.

Der Tag ist noch immer ein besonders guter Tag für Lyn, der Kaffee ausgetrunken, der Plätzchenteller bis auf einen Höflichkeitskeks geleert (“I shouldn’t, but I have no will power”) und Lynnie wird hibbelig. Erstens ist jetzt die Blase voll und ihre Mutter hat immer gesagt, daß eine Dame am besten daheim aufs Klo geht und zweitens fängt in fünf Minuten ihre Lieblingssendung im Fernsehen an, das Sonntagnachmittag-Special auf dem Country & Western-Kanal, zum Mitsingen- und tanzen. Ob ich vielleicht…?

Nein. Ich tanze nicht. Außerdem, wenn ich heute noch eine gut Tat tue, dann brauche ich einen Träger für meinen Heiligenschein.

 

* Trader Joe gehört zum Imperium der Discounter-Brüder Albrecht. Für uns Ausländer ist das ein Laden mit eß- und bezahlbaren Lebensmitteln, für Lyns amerikanische Geschmacksknospen ein Feinschmeckerparadies.

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