Gelesen: Jesmyn Ward – „Salvage the Bones”

“Sing, Unburied, Sing”, ihr damals aktuelles Buch, war vor über fünf Jahren meine erste Begegnung mit Ward und ich war seinerzeit schwer beeindruckt. Nun habe ich ihren Zweitling aus dem Jahre 2011 gelesen, wobei, “gelesen” klingt so einfach. Das war es nicht. Wards Bücher spielen im tiefen Mississippi-Swamp-Süden der USA, im “Bois Sauvage”, und Rassismus und damit bittere Armut von Schwarzen, mit schlechter Ernährung, unzureichender Bildung, Drogen, Vielzufrühschwangerschaften, lumpiger medizinischer Versorgung ist kein theoretisches Problem, sondern ganz schlicht Alltag. In zwölf Kapiteln schildert Ward aus der Perspektive der 15jährigen schwangeren Esch, wie sich Hurrikan “Katrina” über dem Golf aufbaut, tobt und tötet und schließlich eine nie vorher dagewesene Verwüstung hinterläßt. Das letzte Kapitel heißt “Alive”. Nichts steht mehr. Sie haben das blanke Leben gerettet. Salvaged the bones. Dass trotz allem Hoffnung bleibt, macht dieses Buch besonders stark.

Keine freudvolle Lektüre, aber eine sehr horizonterweiternde. Ich könnte diese schwarze Sprache nicht ins Deutsche übersetzen und ziehe den Hut vor Menschen, die das versuchen.

Jeder Tag ist Muttertag

Die Belegeschaft des Discounters unten bei mir in der Passage ist ein sehr solidarischer Haufen. Immer, wenn Ver.di dazu aufruft, schließen sie sich dem jeweiligen Streik an. So auch dieser Tage, was dazu führte, dass eine einkaufswillige Mutter und ihr Sohn vor den verschlossenen Türen des dunklen Marktes standen.

Junior, offensichtlich der Typ, der keine Mißerfolge, sondern nur Chancen sieht (was wird der kleine Kerl später im Leben noch nervig werden), witterte denn auch sofort eine. Man könne doch die nun gewonnene Zeit für den Erwerb von Eis nutzen. Da, gleich da vorne rechts, zeigt er aufgeregt, da wo schon verführerisch die halbmannshohe Eiswaffel kalten Genuß verheißt (ist der Mülleimer, aber wer will kleinlich sein. Außer mir?).

Aber Muttern ist ja nicht doof und mit allen parentalen Wassern gewaschen: “Geht nicht. Die Eisdiele streikt auch.”

Abgang nach links.

Altersvorsorge

Das Unternehmen meines Arbeitgebers im Hunsrück liegt nicht gerade in einer Metropolregion, sondern vielmehr ziemlich zentral in einer Gegend, die selbst von der dortigen Landesregierung als “strukturschwaches Gebiet mit hohem Förderbdarf” ausgewiesen wird. Daher frage ich in Vorstellungsgesprächen immer genau nach, was den Menschen mir gegenüber dazu treibt, hierher zu kommen. Nicht, dass er nach viel zu kurzer Zeit feststellt, dass ihm zu wenig los ist und er dringend wieder weg will.

Der Bewerber neulich hat mich dann doch verblüfft. Er und seine Frau hätten vorgesorgt. “Wir haben uns für den Ruhestand ein Haus gekauft. Superlage! Direkt an der Kriegsgräberstätte.”

Oooo-kay. Jedem seine Lebensplanung. Keine Fragen mehr. Wir haben ihn eingestellt.

Mir ist spontan nur dieses Foto aus den grausligen Schneetagen im Dezember 23 eingefallen.

Vom Werden und Vergehen

Bei mir vor dem Büro, zwischen Maschendrahtzaun und Wellblechwand, hält sich schon seit Jahren wacker ein Rosenstrauch. Gerade zur Zeit quasi Sinnbild. An einen der unteren Zweige nämlich, da, wo wirklich nie ein Sonnenstrahl hinkommt, klammern sich drei letzte schrumplig-rote Hagebutten.

Der wilde Trieb oben hingegen, der immer weiter dem Lichte zu strebt und demnächst über den Zaun entkommt, der treibt schon die ersten zartgrünen ganz ganz weichen Blättchen.

So auch das Leben. Jaha.

Fehlzündungen

Man wird sich in der Besprechung nicht einig. Eine Entscheidung muss her. Kein Problem: “Der Chef ist die letzte Distanz.”

Neu auf Netflix: “Damsel”

Oder wie ich das Filmchen zu nennen pflege: “Millie Lara Furiosa Damsel rettet die Welt”.

Allem voran: ich wollte “Damsel” mögen. Die Idee, dass schon im Titel der ganze Ramsch von der armen verfolgten Unschuld fehlt (nix “Distress”) und der Umstand, dass sich die junge Frau Brown mit ihrer atypischen Kostümheroine Enola Holmes schon sehr in mein Herz gespielt hat, außerdem Drachen – what’s not to like?

Millies Elodie ist eine ganz bezaubernde junge Prinzessin, mit Vater, Kleinschwesterlein und Stiefmutter (letztere wg. pc mit dunkler Hautfarbe), die der Staatsräson wegen in die Heirat mit einem Prinzen aus einem fernen Königreich einwilligt, der mit seiner – wie sich schnell herausstellt – recht bösartigen Familie in einem Disney-tauglichen Märchenschloss lebt und seine just Angetraute (nach einer ausführlichen Einkleidungszeremonie, merken, das wird wichtig) dem bösen Drachen als Opfer zum Fraß vorwirft.

Dann fällt sie. Und klettert. Und rennt. Und rutscht. Und bastelt aus Puffärmeln ein Laternchen. Und fällt wieder. Und klettert wieder, während der Drache (eine Drachin, merken, das wird auch wichtig) sie mit Feuer bespeit und Felsen fallen, Kristalle brechen und so weiter und so fort. Dabei wird aus dem Hochzeitsgewand flugs ein knapper praktischer Kampfdress. Merke: ein Korsett ist immer auch eine Rüstung. Und sie rennt und klettert und entkommt und fällt in dieser riesigen Drachenhöhle und klettert aufs neue und rennt wieder ein Stück… Sowas macht normalerweise der jugendliche Held. Oder Shrek. Und hier eben Elodie.

Dann muss der Drehbuchautor eine Weile am Autorenstreik teilgenommen haben, denn die saudummen Zufälle, die den Drachen immer wieder ablenken, wenn er ihr eigentlich nur noch den Todesfeuerstoß versetzen müßte, können nur von einem Streikbrecherpraktikanten gekommen sein, der im Hauptberuf für die belegten Brötchen zuständig ist. Sein Kumpel für die Heißgetränke macht derweil Continuity – und so gut wie sein Soy-Milk-Latte-mit-Hazelnutsprinkles ist (sehr), so schlecht ist sein Auge für die unterschiedliche Farbe von Pferden, ob blond, ob braun, oder die Plazierung einer Brandwunde (rechts, links, ist ihm alles Jandl).

Als der Autor zurückkommt, fegt er die Scherben zusammen, erklärt noch das mit dem Mord an den Drachenbabies (alles Töchter, soviel Feminismus muss sein) damals und der darauf folgenden immerwährenden Rache des Drachen, aber kein bißchen, warum man sich für den erforderlichen Opferblutmix nicht eine Bürgerliche aus dem eigenen Gäu fängt und das ganze Fremdgehochzeite einfach sein läßt, und denkt sich das Anti-Ende aus, das die Spatzen schon seit der Besetzung von Millie Bobbie Brown von den Dächern brüllen.

Ein sehr Happy End, wenn man abgefackelte Schlösser und brennende böse Königinnen mag. Und weil’s gar so schön ist, pappen sie insgesamt drei Schlüsse an. Dabei hätte (mir) der erste gereicht. Dann hätte ich der Produktion sogar noch eine gewissen Qualität zugebilligt.

So sieht das Machwerk schon sehr aus wie auf den Millie-kann-Girl-Power-sowie-Bouldern-im-Kostüm-Zug aufgesprungen.

Muss man nicht ansehen.

Return of the Jedi

Jon Stewart, legendärer Gastgeber der Daily Show (Late Night im US Fernsehen), ist wieder da. Zumindest montags, zumindest für die Dauer des Wahlkampfs um die amerikanische Präsidentschaft, weil er, wie er sagt, mehr als qualifiziert ist, über die Fehde zweier alter Männer zu sprechen, wo er doch selbst in den neun Jahren seiner Abwesenheit recht grau geworden ist (“I just thought, who better to comment on this election than someone who truly understands two aging men past their prime?”).

Ich habe nun die drei ersten Shows gesehen und muss sagen, er ist wirklich wieder da. Bissig, analytisch, witzig – das macht schon sehr großen Spaß. Er sollte den hochqualifizierten Experten, die er sich für Interviews ins Studio lädt, noch ein wenig mehr Raum geben, ihr kluges Wissen auch unters Volk zu bringen, aber sonst habe ich nichts zu meckern. Wenn man sich diesem unerträglichen Wahlkampf schon aussetzen will, dann gerne so.

Wer mag, suche auf youtube und wird fündig werden.

Versprochen ist versprochen

Über die merkwürdige Werbestrategie des Herrenoberbekleidungsverkäufers Mey & Edlich hatte ich avisiert, werde noch zu sprechen sein (s. https://flockblog.de/?p=48723 sowie https://flockblog.de/?p=48697). Tue ich hiermit.

Erstens:

Wieso, frage ich mich und die Werbetreibenden, trägt Jesus nun zum Blümchenhemd eine gestreifte Weste und eine schief sitzende Fliege? Und wieso nennen die das “unverblümt” (wo doch Blumen drauf sind) und was ist daran “lässig”? Was wollen sie uns damit sagen?

Zweitens:

Der tätowierte Jesus (Arm) macht Strandurlaub. Da, wo’s windig ist. Was hat das mit meinem Kopf zu tun? Ach Mensch, Mey & Edlich. Wie meinen?

Aus dem Vokabelheft

Von wegen, ich verstehe Hunsrücker Platt. Heute im Meeting wurde über jemanden gesagt, dass er den gerade Sprechenden “aber echt mal muscheln” könne. Ich kenne das nur als Substantiv und am liebsten im Weißwein-Knoblauch-Sud. Der Hunsrücker hingegen. Der Hunsrücker. Hah!

Wurde mir armen Ausländerin dann wie folgt erklärt: “Wenn ich über jemanden sage: „Er kann mich muscheln“, dann weist das auf die Handlung hin, die Goethe im „Götz“ mit den Satz „(Schmeißt das Fenster zu.)“ enden läßt.”

Gelesen: Flix – „Faust – Der Tragödie erster Teil”

Alle Germanisten: gemach! Doch. Nicht nur Goethen, nein auch Flix hat eines seiner Werke dem Dauerzweifler Faust gewidmet. Gut, es ist ein Comic, Faust ist ein Berliner Taxifahrer und Famulus Wagner sitzt im Rollstuhl. Einen Pudel gibt es auch. Gott und der Teufel (“Ich bin dein Coach, nenn’ mich Meph”) wetten um Fausts Seele, ersterer mogelt, letzterer ist und bleibt die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Eben. Sehr nah am Original.

Wäre ich 2010 in Deutschland gewesen und eher konservativer Gesinnung, hätte ich den Flix-Faust wohl seinerzeit als Fortsetzungsgeschichte in der FAZ gelesen, so muss ich halt ein paar Jahre später auf den nett besorgten Carlsen Graphic-Novel-Paperback-Band zurückgreifen, was ich einem und einer jeden sehr empfehle.

Genauso gut gealtert wie die Vorlage und um einige Quentchen witziger.

Lesen! Lesen! Lesen!