Die erste Viertelstunde läßt Übles ahnen. Ein unvermittelter Einstieg in Schauspielergarderoben nach einer Vorstellung, es redet und rennt durcheinander, eine Schauspielerin zeigt nackte Brüste, man raucht und trinkt und spricht große druckreife und raumgreifende Sätze, die nichts mit gesprochener Sprache zu tun haben und wer die Romanvorlage von Klaus Mann nicht kennt, ist erst mal etwas verloren.
Dann aber dreht sich etwas, wie und wann genau, kann ich gar nicht sagen, und die Aufführung wird zum Theater. Regieanweisungen erklingen aus Lautsprechern, egal wie privat die Szene auch sein mag (Frühstückseier im Hause Höfgen). Vor allem das großartige sehr minimalistische Bühnenbild (Florian Lösche), beleucht- und rollbare Quader / Stelen, die mit einfachsten Mitteln große und kleinste Räume schaffen lassen und ein so noch nie gesehenes kongeniales Lichtdesign (Maximilian Kraußmüller) tragen die Atmosphäre. Und die Musik. Hach! Elias Krischke an Schlagzeug und Vibraphon. Hach! Ich frage mich immer noch, ob der das macht, weil er es kann oder ob eine versteckte Symbolik darin liegt, das einer wie seine Rollenfigur Hans Miklas, ein sehr früher Parteigenosse mit sehr niedriger Mitgliedsnummer, den Takt zu Höfgens Aufstieg schlägt? Aber ich greife vor.
Die Textfassung von Emilia Heinrich bleibt nah am Mann’schen Roman über den ungeliebten Schwager, Schauspieler, Intendanten, Opportunisten und Karrieristen Gustaf Gründgens. Regisseurin Jette Steckel will aber ein Stück inszenieren, das die Bedrohung der Kunst durch autoritäre Politik zeigt und so müssen Begriffe wie “Sondervermögen”, “Migranten” und “Goldenes Zeitalter” untergebracht werden, das Ensemble besonders divers (alle möglichen Hautfarben, Erwin Aljukić im Rollstuhl und auf Krücken), die ambivalente Sado-Maso-Beziehung zwischen Juliett, hier Julien (Bless Amada) und Höfgen (Thomas Schmauser) eine schwule Liebestragödie sein, Hitler eine MAGAkappe tragen und Flugblätter von einem Balkon geworfen werden (in München, Mann!) – als ob das Publikum nicht selber Transfer leisten könnte. Herrschaften, ey, keiner geht für eine über-drei-Stunden-lange Vorstellung ins Theater, wenn er lieber Seichtes hätte. Echt, die Leute sind doch nicht blöd.* Dann aber wird ein Hitlergruß kurz und klug konterkariert mit Danger Dans “Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt.” Da musste ich sehr lachen. Danach verläßt die Inszenierung den Gehobenen-Zeigefinger-Modus und wendet sich stärker dem Individuum Höfgen zu. Das ist der Moment, in der sie großartig wird.
Auf dem Karriereweg Höfgens ist dies der erbettelte Wechsel von Hamburg nach Berlin. Dazu muss er der Frau an der Seite des Mächtigen (Johanna Elworths nervöse Lotte Lindemann ist zum Niederknien) schmeicheln und vor dem Intendanten kriechen (Edmund Telgenkämper). In der nächsten Schmeichel-Iteration erbettelt er sich wieder “seinen” Mephisto. Schmauser imitiert Gründgens in der Rolle nicht, nicht einmal die ikonische Maske, die er nur sehr kurz trägt. In der Schlüsselszene, in der nun der junge Miklas als Schüler zu Faust kommt, verschmiert er sie und ihm und sich das Gesicht. Fortan wird er Schminkereste im Gesicht tragen und zunehmend wächsener wirken.
Jetzt nimmt die Inszenierung Fahrt auf und es entstehen beeindruckende Bilder, wie das senkrechte Bett, in dem nicht nur zwei, sondern drei Menschen Platz finden müssen, das White-Facing Juliens, eine Tanznummer des inzwischen Ministerpräsidenten / Generals (Goebbels; gespielt von Edmund Telgenkämper, der auch den Intendanten und den Schwiegervater gibt), die in einer Stierkampfparodie mündet, bei der sich einem alles zusammenzieht. Danach trinken die Herren Cognac und die Dame fungiert als Stiefelknecht und dann tanzt der Mächtige zu Jazz, der “entarteten” Musik und es kümmert ihn einen Scheißdreck – alles pure Gewalt, ohne einen Tropfen Blut. Telgenkämper trägt als Ministerpräsident einen Uniformanzug mit Koppel und Breeches (Kompliment an Pauline Hüners Kostüme) und es ist der Rolle sehr zuträglich, dass er aussieht wie der neuerdings aufgepumpte Jeff Bezos.
Währenddessen toben im wächsernen Höfgen mehr und mehr Konflikte. Ja, er will Anerkennung, die des Publikums, die der Mächtigen. Aber er wäre auch gern ein guter Mensch und muss trotz seiner “Bemühungen” machtlos zusehen, wie das Regime zwei junge Wegbegleiter tötet, den Rechten und den Linken. Wie diese Szenen inszeniert sind und gespielt werden, ist herzzereißend. Dieser Höfgen dauert einen, man kann ihn aber auch nicht leiden. Hut ab vor Schmauser, der sich in diese Rolle wirft, als gäbe es kein Morgen.
Wo war ich? Ach ja, die Rahmenhandlung. Das Theater hat zur Geburtstagsfeier des Ministerpräsidenten eingeladen. Und wieder einmal geht das Licht im Zuschauerraum an, während Julien auf der Bühne einen Breakdance zelebriert und der bösartige Machthaber unterbricht und dann das Saalpublikum direkt anspricht. Das könne man ja wohl nicht haben, dass hier ein Schwarzer auf der Bühne herumzappelt und ein deutsche Publikum dazu applaudiere. Für diese Aussage fordert er Beifall ein. Nach meiner Schätzung ist ca. ein Viertel der Anwesenden der Aufforderung nachgekommen. Die anderen alle im Widerstand. (Mindestens.) Aus dem Off ein Jubelgedicht des Untergangspoeten Gottfried Benn auf den Führer, für das wieder zu Beifall animiert wird. Weniger, dieses Mal. Sehr beklemmende Momente.
Der Schluß ist gut und richtig, weil er keine Antwort gibt, sie nicht geben kann: Höfgens Exfrau (Linda Pöppel) konfrontiert ihn: „Es ist egal, wie viele Menschen du rettest. Du legitimierst hier Faschisten!“ Sein überforderter Blick geht zur Souffleuse. Sein letztes Wort: „Text?!“ Dann Vorhang.
Trotz ein paar Längen und unnötigen Übererklärungen ist Steckels “Mephisto” ein sehr guter Theaterabend geworden. Mit einem überragenden Ensemble: Bless Amada, Erwin Aljukić, Johanna Eiworth, Elias Krischke, Linda Pöppel, Thomas Schmauser, Maren Solty, Edmund Telgenkämper, Martin Weigel.
Das sich, nach dem Schlußapplaus, mit einer Ehrung vom jüngst verstorbenen Carl Hegemann verabschiedet. (https://www.youtube.com/watch?v=hr1LKqpwbI8)
Hingehen!
* Kurt Tucholsky hat dem anderen, dem blöden Publikum mit diesem Gedicht ein Denkmal gesetzt:
O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: «Das Publikum will es so!»
Jeder Filmfritze sagt: «Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!»
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
«Gute Bücher gehn eben nicht!»
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?
So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte…
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?
Ja, dann…
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann…
Ja, dann verdienst dus nicht besser.
Theobald Tiger
Die Weltbühne, 07.07.1931, Nr. 27, S. 32