Wer mich kennt, weiß, dass ich dazu neige, mich in Themen zu vertiefen und seit mir die Zeit dafür gegeben ist, umso mehr. Diese Bonusstunden sind einer der Aspekte, warum ich die Berufstätigkeit ü-ber-haupt nicht vermisse. (Falls ich noch nicht oft genug erwähnt haben sollte, wie gut mir das Rentnerleben gefällt…)
Nun aber zu “Wannsee”, der Graphic Novel. Das ist mal ein extrem geglückter Ansatz zum Thema. Der Text ist durch das letzte verbleibende Exemplar des “Besprechungsprotokolls” vorgegeben. Die Bildsprache* ist etwas ganz anderes. In sepia-getönten (ich möchte sagen) Aquarellen fängt Fabrice Le Hénanff die kalte Winteratmosphäre um und in der hochherrschaftlichen Villa am Wannsee und die einen Massenmord organisierenden Konferenzteilnehmer ein. Wenn Farbe hineingrellt, dann sind es blutrote Hakenkreuzfahnen oder der gelbe Judenstern.
Le Hénanff zeichnet das Grauen der Hinrichtungen von Babyn Jar in einem dramatischen ganzseitigen Bild, den Wortlaut der Nürnberger Gesetze und die Pläne für das KZ Auschwitz als Hintergrund des Zuständigkeitsgerangels unter den beteiligten Mandatsträgern. Darüber hinaus verbeugt er sich vor Art Spiegelman**, indem er eine Maus einführt und sie zeitgleich mit dem Beschluß zur Ermordung von 11 Millionen Menschen von einer Katze totbeißen läßt.
Ich habe mich manchmal gefragt, ob diese sehr gelungene künstlerische Ästhetisierung eine “Pornografie des Grauens” darstellt und bin zur Antwort gekommen, dass das vielleicht so sein mag. Dennoch hat jeder Weg, der die Nachgeborenen informiert, aufweckt und bestenfalls einen Beitrag zu “Nie wieder ist jetzt!” leistet, eine, seine Berechtigung.
Lesen! Lesen! Lesen! Mein Exemplar kann entliehen werden.
* Korrektur: ich hatte neulich irrtümlicherweise erzählt, dieses Buch sei wie ein Storyboard zu der Verfilmung mit Philipp Hochmair aus dem Jahre 2022. Richtig ist vielmehr, dass es in Anlehnung zum Film “Conspiracy” mit Kenneth Branagh aus dem Jahr 2001 entstanden ist.
Soooo ein ausgesprochen liebenwürdiges Buch für alle Literati und die, die schon immer was über die Hintergründe des Literaturbetriebs wissen wollten.
Jede einzelne Zeichnung enthüllt bei längerer Betrachtung noch ein kleines feines Detail und falls wer ein Geschenk für Viellesende in seinem Freundeskreis sucht: das isses. Macht richtig Spaß!
Hein beschreibt auf gut 750 Seiten Aufgang bis Untergang der Deutschen Demokratischen Republik, des aus westlicher Sichtweise, “anderen Deutschland”. Ich darf das so nennen, denn die Mauer und ich sind ungefähr gleichaltrig und für mich war diese Wiedervereinigung, wiewohl im Grundgesetz festgeschrieben, immer ein sehr nebulöser Begriff. Wie mit etwas “wieder”vereinigt werden, mit dem man nie zusammen war?
Ich hatte bis dato noch nichts von Hein gelesen, kann also nicht beurteilen, ob dieser befremdliche Stil, hölzern, zeitweise fast bleiern, mit vielen Wiederholungen und andauernd in einem passiv-aggressiven Ton gehalten, wo Menschen keine freien Entscheidungen treffen, sondern vorgegeben bekommen, was sie zu tun und zu lassen, sie sich einzufinden, zu melden, vorzustellen haben, ein Kunstgriff ist, der die Atmosphäre dieses Staates abbilden soll. Wenn ja, dann ist ihm das ausgezeichnet gelungen.
Hein beschreibt seine Geschichte der DDR anhand von Protagonisten, deren Biographien aus mehreren realen Lebensläufen zusammengesetzt sein dürften – die einzigen, die ich selbständig entschlüsseln konnte, waren “die beiden Erichs” (Mielke und Honnecker) sowie den schwer personengeschützten, fotoscheuen, klandestinen “Markus Fuchs” (Leiter des Auslandsgeheimdienstes Markus “Mischa” Wolf). Zunächst Professor Karsten Emser, Ökonom, der im sowjetischen Exil der dreißiger Jahre zu den stalinistischen Säuberungen genauso schweigt, wie er es später als Mitglied des Zentralkomitees der SED tun wird, zum Beispiel anläßlich eines Gesetzes, das Inflation durch Verbot abschafft. Ebenfalls aus Moskau zur Staatsgründung reist an der Pastorensohn und Kriegskrüppel Johannes Goretzka, Ingenieur für Hüttenwesen. Einst glühender Anhänger der NSDAP, nun als ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener und marxistisch-leninistisch geschult, glühender Anhänger Stalins. Jeweils 150-prozentig. Auch ihre Ehefrauen machen im neuen Staat schnell Karriere: Rita Emser wird – stellvertretende – Bürgermeisterin, Yvonne Goretzka wird für die Linientreue bei Kinder- und Jugendfilmen verantwortlich, also Zensorin. Stellvertretend, denn sie ist zwar Parteigenossin, aber halt doch nur eine Frau und in der Hauptsache damit betraut, ihren Chef Benaja Kuckuck (so ein schöner erfundener Name, hach!) zu überwachen. Dieser, Jude und international anerkannter Germanist und Anglist war nämlich im Exil in England, und Internationalität, Fremdsprachenkenntnisse außer Russisch und Weltläufigkeit sind im neuen demokratischen Deutschland per se verdächtig. In dieser Fünferkonstellation wird man sich zukünftig regelmäßig zum Abendessen treffen, und bei Karsten Emser vom ZK die Meinung der Partei zur aktuellen Lage abholen. Merke: “Man darf sich irren, aber nie gegen die Partei. Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei recht haben, denn sie allein hat immer recht*.”
Idealismus? Integrität? Gutes Gewissen? Jede und jeder entscheidet allein, was ein gutes Leben für sich und seine Lieben wert ist. Nur einmal nicht so genau hinsehen. Nur einmal einen Gefallen gewähren. Nur einmal trotz besseren Wissens den Mund halten. Nur einmal – und dann ist es wie immer. Das zweite Mal ist schon nicht mehr so schwer, ab dem dritten wird es Normalität und nach kaum vierzig Jahren scheitert das aus Ruinen auferstandene “bessere Deutschland”, das “Experiment DDR”, nicht nur, aber auch, daran, dass Menschen Menschen sind und bleiben.
Hein erzählt seine teils autobiographisch gesprägte Geschichte des “Arbeiter- und Bauernstaats” nicht ohne Grund entlang der Biographien akademisch geschulter Parteikader. Wenn einmal echte malochende Proletarier vorkommen, sind die schon lange desillusioniert von der realsozialistischen Realität, in der Rohstoffe und Konsumgüter knapp sind, die Maschinen marode, der große russische Bruder (und Besatzer) sich freizügig bedient und, entgegen aller Hoffnungen und Erwartung von Partei-ZK und Flüchtlingen, Schlesien und Pommern selbstverständlich seinem großen Reich einverleibt und nicht dem Staatsgebiet der DDR zuschlägt.
Im Lauf der Geschichte kommt logischerweise irgendwann die nächste Generation zu Wort, die Kinder der Kader, die Jugend, die Fragen stellt. Warum sollen sie nicht dieselbe Musik hören, dieselbe Kleidung tragen dürfen wie ihre Altersgenossen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs? Warum dürfen sie nicht raus? Reisen, wohin sie wollen? So, wie es das Vorrecht der Jugend seit ehedem ist. Und wie sie es aus dem Westfernsehen kennen. Das Regime hat keine Antworten und reagiert in seiner Hilflosigkeit nur mit Strafmaßnahmen und Verboten.
Hein springt in der Zeit, läßt auch Themen aus. Ich hätte beispielsweise mehr zu Wolf Biermanns Ausbürgerung nach dem Köln-Konzert, und dem anschließenden “Kulturkampf” der Parteiführung gegen Künstler und Intellektuelle erwartet. Das mag aber daran liegen, dass ich in dieser Zeit schon ein politisches Bewußtsein hatte und das Thema damit für mich mehr Bedeutung.
Ganz gräßlich wird es zum Ende hin, wenn die lang ersehnte “Wiedervereinigung” endlich stattfindet. Jubel, Begrüßungsgeld und Zweitaktmotorengestank, aber auch das Prinzip “Rückgabe vor Entschädigung”, was dazu führt, dass viele, die nach dem Krieg ihre Heimat verloren hatten, sie noch einmal verlieren. Diese Szenen beschreibt er eindringlich und schmerzhaft.
Die Schlußpointe bildet eine Besonderheit des (west-)deutschen Rentenrechts. Für Rita Emsers Witwenrente wird nur das eine Jahr angerechnet, in welchem ihr Mann an der Hochschule in Kassel lehrte. Die erzwungenen Exiljahre ab 1935 in Moskau nicht. Yvonne Goretzka hat es besser: die Jahre ihres Mannes bei der Wehrmacht und in russischer Kriegsgefangenschaft gelten und bringen Geld.
Ich weiß, das ist jetzt eine sehr lange Rezension geworden. Es ist aber auch ein dickes Buch.
Mir ist das Schreiben nicht leicht gefallen, ich habe für die fast 1000 Wörter und x Überarbeitungen fast eine Woche gebraucht. Ich bin auch immer noch nicht sicher, ob ich eine Leseempfehlung aussprechen soll. Die Sprache ist, wie gesagt, hölzern, nicht “schön”, dennoch wollte ich immer weiter lesen, weil ich so sehr vieles nicht wußte. Drum: Wem es ähnlich geht, wer wissen und lernen will, nehme sich die Zeit.
Man kann für die Fünfzigkilometerstrecke von Landsberg/Lech bis in den Münchner Westen schon auch statt der üblichen guten halben Stunde zwei Stunden vergeuden. Und hat dabei alle vom Navi vorgeschlagenen Schleichwege bis zum letzten Feldpfad genutzt. Wenn die Herren und Damen Langes-Wochenende-im-Süden-Verbringer wenigsten in ihren Blechkisten einfach nur langsam vorwärts kröchen. Neihein, sie müssen schneller sein als andere und beim einander überholen Beulen in fremder Leute KFZ hineindellen und dann kommt die Polizei und ich zu spät.
Ich hatte nämlich nur eine knappe Dreiviertelstunde Puffer eingeplant plus extra Zeit für eine schnelle Katzenwäsche, damit ich nicht vollkommen verschwitzt auf der Physiotherapeutinnenliege ankomme. Kam anders. Die Gute hat mir vergeben. Ich den Autobahnverstopfern nicht.
Pianist Sultan Stevenson ist ein Ausnahmetalent, seine Bandkollegen auch. Auf der Bühne setzen die drei eine Energie frei, wie ich es so noch nicht sehr oft erlebt habe.
Huiuiui!
Getragen von der Musik und weil ich jüngstens doch viel Zeit am Hofe Heinrichs des Achten verbracht habe, phantasiere ich mir den knapp zwanzig Jahre alten Baseman, ach was, den Bassbuben Jacob Gryn mit seinen schulterlangen Locken, den rosenbehauchten Wangen und den wie ausgestochenen Lippen in eine Pagenuniform und bin sicher, dass ihn der ganze Palast, Männer wie Frauen, lebendigen Leibs verschlingen wollen würden. Der Schlagzeuger Tom Potter (Hach! Diese Soli! Multiple Hachs!) ist von ganz anderem Kaliber. Mit dem coolen Undercut, der hohen hohen Stirn und den vor Weltekel tief nach unten gezogenen Mundwinkeln ist er die Idealbesetzung für einen arroganten Prinzling. Dabei ist er außerhalb meiner Gedankenwelt bestimmt ein total netter Kerl.
Aber halt! Schluß mit der Aus- und Abschweiferei. Wir sind hier nicht in Hampton Court, sondern zum Musik hören. Und können Herrn Stevenson und seine Mannen nur von Herzen loben und empfehlen.
Wer hier regelmäßig mitliest, kann sich vielleicht erinneren, wie ich vor drei Jahren angesichts der Trilogie Hilary Mantels über Aufstieg und Fall Thomas Cromwells in Begeisterung ausgebrochen bin (s. https://flockblog.de/?p=46952). Dass sie verfilmt worden waren, wußte ich schon, allein, irgendwie war nie Zeit für viele Stunden Historiendrama. Außerdem hatte ich Zweifel, wie sehr die Verfilmung eines, ach was dreier historischer Romane basierend auf echter Geschichte glücken könnte und ob sowas nicht in einem unerträglichen Kostümschinken endet.
Gleich voraus: Nein. Tut es nicht. Die federführende BBC zeigt bei “Wolf Hall”, dass sie nicht zu Unrecht einmal einen sehr guten Ruf hatte. Mein erstes und großes Kompliment gilt Peter Straughan, der Mantels viele tausend Buchseiten für/in ein Drehbuch adaptiert hat. Wow! Ich bin nicht ganz sicher, ob sich jemandem, der die Bücher nicht kennt, alle Handlungsstränge in diesem Bündel von Intrigen und höfischen Ritualen komplett erschließen, aber als Ausgleich tut die Bewegte-Bilder-Sprache das ihre und bietet neue Perspektiven und Horizonte.
Die Besetzung liest sich wie das “Who is who?” britischer Film- und Fernsehschaffender, bis hin zu den Nebenrollen (wie immer ziehe ich die englische Bezeichnung “supporting actors” der eher abfälligen deutschen vor), die Drehorte (Schlösser, Kathedralen, sonstiges) kommen in England ohnehin geradezu wild vor und Kostüme und Ausstattung dürften sehr nahe an den historischen Originalen sein.
Bei mir ist Halbzeit, ich habe die erste von zwei Staffeln mit je sechs einstündigen Folgen sehr genossen und freue mich, das Dutzend demnächst vollzumachen.
Unsere Generation ist tatsächlich sterblich und einer der letzten, der das am eigenen Leib erfahren hat, war Manfred Tauchen. Genau, der von DÖF und Watzmann, der, der im Lustspielhaus in München eine langjährige künstlerische Heimat gefunden hatte. Drum hat der Chef des Hauses Gabi Rothmüller damit betraut, was zu machen.
Gezaubert hat sie in kürzester Zeit eine fröhliche Gedenkrevue mit Freunden, Wegbegleitern, Künstlerkollegen, Mitmusikern, Familie und sonstigen. Mit einer liebenswerten Fotoschau, einer anrührend-lustigen Rede seiner langjährigen Ehefrau Nr. 2, die mit der gemeinsamen Tochter und Gattin Nr. 1 gekommen war, Filmausschnitten und ganz vielen Tauchen-Lieblings-Musiknummern, vorgetragen von langjährigen Kollegen, viel Watzmann sowie eine bezaubernden Turbofassung des gemeinsamen Siegfried, mit Zwergen- und Burgunderkönig (viele Hachs! dem Kollegen Liegl) und einem wunderschönen Attentat auf den blondhaarvergessenden Helden Severin Gröbner (auch viele Hachs!). So hat mans halt gesehen: Grau sind wir alle geworden, im Publikum und auf der Bühne…
Man kann dem Haus und all den fleißigen Helferlein nur danken für die Mühe, die sie sich geben haben. Ob von oben oder unten, der Tauchen wirds mit Wohlgefallen gesehen haben. Recht so. Well done!
Frau Rothmüller kann, außer inszenieren und schreiben und singen und spielen offensichtlich auch Lebenswerken fröhlich gedenken und Conference. Da schau her. Dann will ich sie jetzt auch einmal ganz sehr feste loben, denn das hat sie sich verdient. Ja, und danke für die Einladung sagen.
Letzte Woche beginnt der Zug nach Hamburg am Münchner Hauptbahnhof und steht schon bereit, als ich am Gleis ankomme. Schön. Ich steige gemütlich zu, verstaue mein Köfferchen, richte mich am Platz ein. Wasserflasche und Buch ins Netz, Häppchen für später auf die seitliche Ablage, so, wie alle anderen um mich herum. Kaum nehme ich meine Lektüre zur Hand (T. C. Boyle, Blue Skies) ruft es schon vom Sitz nebenan: “Kenne ich schon, da werden Sie Spaß haben” und zeigt mir im Gegenzug ihr Buch, worauf sich die Dame vom Vordersitz zu uns dreht und ihres präsentiert. Jede erzählt kurz, was und warum sie das liest, jede nimmt das Exemplar der anderen kurz zu sich, um ein Foto davon zu machen und dann lassen wir einander in Ruhe, denn wir wollen ja lesen.
Physische Bücher, ein spontaner Lesezirkel. Auch das ist typisch Boomer. * Und dieses Lied geht mir seitdem nicht aus dem Kopf: