Echt jetzt?

Ich habe die letzte Tage literarisch in der italienischen Frührenaissance verbracht und zu schnür- oder entschnürende Korsetts waren quasi mein Alltag. Ist es da verwunderlich, dass ich mich bei einer solchen Kondomreklame frage,

ob Latex für den langen Halt dann wohl auch mit Fischbeinstäben verstärkt sind?

Gelesen: Paolo Bacigalupi – „Navola”

Endlich!

Ich hatte ja schon berichtet, wie sehnlichst ich nach fast 10 Jahren Wartezeit den “neuen Bacigalupi” erwartet habe – https://flockblog.de/?p=49425 – und dann brauchte ich noch ein zusammenhängendes Stück Zeit, um die über 500 Seiten zu verschlingen (während ich mich ständig ermahnen mußte, langsam, laaangsam zu lesen und zu schlucken und zu genießen).

Wow!

Meine Fresse!

Holla, alle Waldfeen!

Bisher kenne ich Bacigalupi vor allem als Autor futuristischer Dystopien, in denen die Menschheit gezwungen ist, auf dem nunmehr erfolgreich zerstörten Heimatplaneten zu überleben. Genauso, wie Wikipedia es erklärt: “Eine Dystopie ist eine meist in der Zukunft spielende Erzählung, in der eine erschreckende oder nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung dargestellt wird.” Betonung auf “meist”. Denn das aktuelle Werk spielt in einer fiktiven Vergangenheit, ist aber deswegen nicht weniger dystopisch, denn auch hier ist der Mensch des Menschen Wolf und die Welt nicht, wie sie sein könnte.

Wir gehen kurz zurück ins 20. Jahrhundert, erinnern uns an Bert Brechts “Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?” und solchermaßen vorbereitet tauchen wir ein in den fiktiven Stadtstaat Navola, um die Familie di Regulai kennenzulernen. Die di Regulai sind Besitzer einer Bank und über ein weitgesponnenes Netz aus Darlehen, Zinsen, Spionage und Gefälligkeiten, Hypotheken, Handel, Versicherungen, Hochzeiten und Wohltätigkeiten sind sie Dreh- und Angelpunkt aller Macht, ohne dabei je formal ein politisches Amt innezuhaben. Die Florentiner Medici des frühen 15. Jahrhunderts dürften für diesen frühen Mob Pate gestanden haben, wobei Navola, soweit reicht die dichterische Freiheit allemal, im Gegensatz zu Florenz einen eigenen Stadthafen hat, weil man sowas immer gut gebrauchen kann. Außerdem vor den Stadttoren gleich herrliche Landschaften und Wälder, weil man ja nun auch jagen und picknicken will.

Bacigalupi erschafft ein Universum. Mit Mythologien, existierenden und untergegangenen, einer Welt vor dieser jetzigen, Philosophien und überlieferten Schriften, ein System aus Geldflüssen, Standardisierung, Verträgen und Versprechen. Es ist atemberaubend. Manchmal glaubte ich, ihm auf der Spur zu sein, weil die Namen von Göttern oder Denkern, die Entstehungsgeschichte von Welt und Unterwelt nah an dem ist, was ich kenne. Aber nein, wieder eine Wendung, wieder ein Verrat , wieder eine Intrige, ein Spiel im Spiel im Spiel. Ich war ja erst auch mißtrauisch: wie? Eine Geschichte über Drachen? Fantasy? Meh. Ja, es spielen Fantasyelemente hinein, aber Bacigalupi spielt auch mit denen und den Erwartungen, die seine Leserschaft haben könnte und hoppla!, wieder eine Volte.

Ich habe den Roman mit ganz ganz großer Freude gelesen und er sei von ganzem Herzen weiterempfohlen. Habe eben nachgesehen: es gibt bereits eine deutsche Übersetzung.

Lesen! Lesen! Lesen! Lesen!

Armer Apple-Algorithmus

Auf meinem Telefon sind weniger Bilder von Menschen, als Screenshots von unsinnigen Zeitungsbeiträgen oder sonstigen Absurditäten zu finden. Das hat zur Folge, dass mir nicht etwa “Schöne Tage mit Heinz am Strand” oder “Spaß mit den Mädels auf Malle” oder dergleichen in die (von mir nie bestellte) Memories-Fotoschau eingespielt werden, sondern im Wechsel zwei sogenannte “Fotostrecken”. Einmal “Schneetage” (s. o. unter “Absurditäten”) sowie “Dreamy Sunsets” (exakt einer, der dann halt mehrfach und warum auf Englisch, weiß ich nicht).

Ein Mensch hätte es längst aufgegeben…

Rilke reloaded

Herr: lass dir Zeit. Der Sommer ist schön groß.
Lass weiter messen Zeit auf Sonnenuhren,
und auf den Fluren soll man bräunen: los.

Land mit Touristen habe voll zu sein;
gib ihnen weiter südlichere Tage,
lass Zeit bis hin zum Ende und sage
einen Aperol noch, bitte, und noch einen Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, mietet ein Hotel.
Wer jetzt allein ist, reist in den Club Med,
wird feiern, tanzen und spazieren gehen
in Schlappen, Schwimmzeug und Schackett
und genießen, wenn die Winde wehen.

Nachfolgend das Original. (Für die, die es möglicherweise nicht auswendig können…)

Vorhin, im Ein-Euro-Shop

Jaha, ich habe Urlaub und bin abenteuerlustig. Also habe ich mir nach der Zahnreinigung noch einen Ausflug in den Ramschladen gegönnt, um den schwindenden Bestand an Putzlappen, Haargummis und Glückwunschkarten aufzustocken.

Neben der Erkenntnis, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt wie es war, weil nämlich a) die Dame an der Kasse nun ein Barcodelesegerät braucht, weil die Preise unterschiedlich sind (soweit zu 1€ für alles) und b) überall Blogpostmaterial herumlungert, habe ich immerhin die Schundshopchallenge für dieses Jahr erfolgreich absolviert.

Das Blogpostmaterial?

Eine Gruppe praller, mehrheitlich blonder Damen in großgeblümt und breitgestreift debattiert recht kehllautig über einem Handy, bis die tapferste Wallküre bei der Kassenkraft Erkundigungen einholt. Ob man denn in diesem gut sortierten Etablissement wohl auch Schicherheitsnecheln führe. (Nehme ich in meinen Wortschatz auf, ist schön.)

Zwei offensichtlich geschlechtsreife Teenager diskutieren die Qualität von 1,30-Euro-Schwangerschaftstests. Weil: “die guten kosten mindestens 10”. Die andere hat eine Lösung: “Nimm doch zwei. Ist immer noch billiger.”

Wäre die Zukunft dieses unseres Landes auch gesichert.

Gelesen: Nnedi Okorafor – “Lagoon”

Mit ihrer Binti-Trilogie (s. https://flockblog.de/?p=34766) hatte Okorafor mich sehr gewonnen. Wofern, wie in diesem Fall, die Chance besteht, das zu schaffen, versuche ich mich bei manchen Autor*innen durch das Gesamtwerk zu lesen. Deswegen “Lagoon”.

Das Buch ist einige Jahre vor “Binti” entstanden und verdankt seine Existenz dem Umstand, dass Okorafor ihr Heimatland Nigeria in dem Film „District 9″ fremdenfeindliche Stereotypen ausgesetzt sah, dem etwas entgegensetzen wollte und zu einem Rundumschlag ausholte.

Das merkt man. Nigeria, spezifisch die Hauptstadt Lagos, in der Außerirdische landen, wird permanent als der Ort erwähnt, von dem wohl keiner erwartet hätte, das extraterrestrische Wesen ausgerechnet dieses Ziel auswählen. Das hätten selbst wenig aufmerksame Leser beim dritten, vielleicht vierten Mal verstanden und nicht alles paar Seiten wieder gesagt bekommen müssen. Sie versucht, viel zu viel unterzubringen: Korrupte Politik und Politiker, Straßengewalt, marginalisierte Randgruppen, Armutsprostitution, allerlei Religionen und dergleichen Aberglauben mehr, Gewalt gegen Frauen, Ausbeutung durch andere Staaten sowie den gesamten Postkolonialismus-Komplex, Mystik, Karl Marx als Heilsfigur, Menschen mit “Superkräften” – es wird irgendwann voll und laut und ziemlich anstrengend.

Wer sich in Afrofuturismus einlesen will, lese die Binti-Trilogie, das Frühwerk habe ich ja nun gelesen, damit ihr es euch sparen könnt. Gern geschehen.